Ein Herbsttag im Zeichen der Freundschaft
Der XIV. Dalai Lama zu Gast bei Roland Koch
„Immer geradeaus bis zu den gelben Sicherheitswesten“. Die junge Polizeibeamtin weist mit ihrer Hand nach vorn und lächelt dabei freundlich. Die gelben Punkte auf der hellgrünen Wiese entpuppen sich beim Näherkommen als weitere Beamte, die ankommende Fahrzeuge auf den provisorischen Feld- und Wiesenparkplatz leiten. Auch sie scheint es nicht zu interessieren, dass wir zusammengedrängt in einem überfüllten Auto sitzen, denn heute sind die üblichen Vorschriften ausser Kraft gesetzt. Seine Heiligkeit, der XIV. Dalai Lama, kommt in den Hessenpark bei Neu-Anspach. Wo er auftaucht eilen ihm Freundlichkeit, Friedfertigkeit und ein kleines Augenzwinkern voraus.
Mehr als 10.000 Menschen werden dem Freundschaftstreffen zwischen dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Roland Koch, und dem Oberhaupt der Tibeter, Tenzin Gyatso, dem XIV. Dalai Lama beiwohnen. Die ersten haben sich schon gegen neun Uhr vormittags auf den Weg in das hessische Freilichtmuseum gemacht. Mit Kind und Kegel ziehen sie, Picknickkörbe, Decken und Sitzkissen in der Hand, auf den Haupteingang zu. Es herrscht eine freundschaftliche Atmosphäre, die ein gemeinsamer Wunsch eint: Dem charismatischen und zugleich bescheidenen Würdenträger einmal ganz nahe zu sein. Etwas von seiner Ruhe, Offenheit und Liebe zu spüren und ein bisschen von seiner Weisheit mit nach Hause zu nehmen.
Auf dem historischen Marktplatz wehen tibetische Gebetsfahnen und bilden einen kräftigen Kontrast zu den pastellfarbenen Fachwerkhäusern. Ebenso farbenfroh stechen einige Tibeter und Tibeterinnen in traditionellen Gewändern aus der Menschenmenge hervor. Die Möglichkeit, dem geistigen und weltlichen Oberhaupt ihres Volkes an diesem Tag zu begegnen, bedeutet für sie ein großes Glück. Die meisten von ihnen zeigen unverstellt ihre Gerührtheit und Freude. Für dieses Volk im Exil findet der Dalai Lama später in seiner Rede besonders warme, ermutigende und auch entschiedene Worte. Er betont seine Überzeugung in das Fortbestehen des tibetischen Geistes. Dieser Geist entsteht aus dem buddhistischen Glauben und aus der über Jahrtausende gewachsenen, kulturellen Identität. Der Buddhismus, mit seiner über 2000 Jahre alten Tradition, bildet eine stabile Grundlage im Gegensatz zu kurzlebigen Ideologien. Das wachsende Interesse am Buddhismus, das man überall auf der Welt verfolgen kann, bezeugt seine Relevanz für die Gegenwart und sichert damit den Erhalt der buddhistischen Lehre, betont Seine Heiligkeit. Selbst in der chinesischen Bevölkerung sei eine Rückbesinnung auf den buddhistischen Glauben zu beobachten.
Das Treffen der beiden Staatsmänner, die unterschiedlicher nicht sein könnten, steht unter dem Motto der hessisch-tibetischen Freundschaft. Und es wir schnell deutlich, dass mit dieser Zusammenkunft bewusst ein Zeichen für das freie Ausleben der kulturellen Identität und die Achtung der Menschenrechte gesetzt wird. Jedes Volk, so Ministerpräsident Koch, hat das Recht in Glück und Frieden zu leben. Er betont in seiner Rede, dass seine Freundschaft und sein Engagement für den Dalai Lama auch darin begründet sind, dass dieser sein Volk über so viele Jahre, selbst gegen Widerstände aus den eigenen Reihen, dazu gebracht hat, seine Interessen mit friedlichen Mitteln zu verteidigen. Es sind klare aber auch vermittelnde Worte, mit denen Koch, als Freund Chinas und als Freund des Dalai Lama, den Versuch unternimmt, alle Beteiligten in der Tibetfrage miteinander ins Gespräch zu bringen. Besonderen Respekt zollt er dem Dalai Lama für sein Bemühen um eine friedliche Lösung des Konfliktes und betont, dass er das Oberhaupt Tibets auch weiterhin mit aller Kraft unterstützen will. Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik ruft er dabei zur Mithilfe auf. Es ist ein Zeichen von Freundschaft, so Koch, seine Stimme für jene zu erheben, die hierzu keine Möglichkeit haben. „Dass es schwierig ist in Tibet in Freiheit zu leben und seinen Beruf zu behalten, wenn man nur ein Bild vom Dalai Lama besitzt, werden freie Menschen in der Welt nicht ertragen, ohne dagegen zu protestieren. Es dürfen nicht die zu Verlierern werden, die die Mittel der Gewalt nicht anwenden“.
Wie aber ist es dem Oberhaupt der Tibeter angesichts von Bedrohung, Gewalt und Zerstörung in seinem Heimatland möglich, beständig den Dialog zu suchen und hierbei eine friedfertige und gewaltfreie Haltung zu wahren?
Dazu muss man den buddhistischen Geist verstehen, auf dessen Grundlage diese Haltung gewachsen ist und den der Dalai Lama nicht nur verbal in unzähligen öffentlichen Vorträgen weitergibt, sondern den er sichtbar lebt. So geht es auch in diesem Vortrag auf der Waldwiese im Hessenpark zwar um das Thema „Freundschaft“, darunter schwingt jedoch ein tiefgründigeres, grundlegendes buddhistisches und menschliches Thema – Mitgefühl. „Mein Lieblingsthema“ gibt der Dalai Lama dann auch unumwunden zu und lacht, wie so oft, über sich selbst und seinen gelungenen Scherz. Mitgefühl bedeutet nicht Mitleid, sondern basiert auf Respekt und Anerkennung der Rechte und Bedürfnisse eines jeden Lebewesens. Daher ist echte Freundschaft ohne Mitgefühl nicht möglich.
Der Same des Mitgefühls, so Seine Heiligkeit, wird nicht durch den Glauben gelegt, sondern entsteht auf einer zwischenmenschlichen Ebene. Indem wir als Kinder Liebe und körperliche Fürsorge durch die Mutter erfahren, wird in uns der Grundstein für eine liebevolle Haltung anderen Wesen gegenüber gelegt. Ausgehend von diesem Gefühl der Verbundenheit mit Freunden und Familienmitgliedern kann dann durch geistiges Training Mitgefühl auf alle Lebewesen ausgedehnt werden, auch auf solche, die uns nicht unbedingt wohlgesonnen sind. „Uneingeschränktes Mitgefühl“ nennt der Dalai Lama diese Haltung und betont, dass nur uns Menschen diese Form des Mitgefühls möglich ist.
Vielleicht ist es die Sehnsucht, etwas von diesem „uneingeschränkten Mitgefühl“ zu erfahren, die so viele Menschen an diesem sonnigen Herbsttag auf die idyllische Waldwiese treibt. Geduldig stehen sie, selbst ein wenig bunten Gebetsfahnen gleich, an den Absperrungen und winken dem Friedensbotschafter zu. Schwingen Fahnen, Gebetsschals und Kameras über den Köpfen, um noch ein letztes Bild zu erhaschen von dieser berühmten Person, die zum Sinnbild des Friedens und der Sanftmut geworden ist.
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