MN144 – Rat an Channa

Majjhima Nikàya 144

Rat an Channa
(Channovàda Sutta)

1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Ràjagaha im Bambushain,
dem Eichhörnchen-Park auf.

2. Bei jener Gelegenheit wohnten der ehrwürdige Sàriputta, der ehrwürdige
Mahà Cunda und der ehrwürdige Channa auf dem Geiersberg.

3. Bei jener Gelegenheit war der ehrwürdige Channa von einer Krankheit betroffen,
litt an ihr, und war ernsthaft erkrankt. Dann, als es Abend wurde, erhob
sich der ehrwürdige Sàriputta aus der Meditation und ging zum ehrwürdigen
Mahà Cunda und sagte zu ihm: „Freund Cunda, laß uns zum ehrwürdigen Channa
gehen und ihn nach seiner Krankheit fragen.“ – „Ja, Freund“, erwiderte der ehrwürdige
Mahà Cunda.

4. Dann gingen der ehrwürdige Sàriputta und der ehrwürdige Mahà Cunda
zum ehrwürdigen Channa und tauschten Grußformeln mit ihm aus. Nach diesen
höflichen und freundlichen Worten setzten sie sich seitlich nieder, und der ehrwürdige
Sàriputta sagte zum ehrwürdigen Channa: „Ich hoffe, es geht dir besser,
Freund Channa, ich hoffe, du fühlst dich wohl. Ich hoffe, deine schmerzhaften
Gefühle lassen nach und nehmen nicht zu, und ihr Nachlassen zeigt sich, nicht
ihre Zunahme.“

5. „Freund Sàriputta, es geht mir nicht besser, ich fühle mich nicht wohl. Meine
schmerzhaften Gefühle nehmen zu und lassen nicht nach; ihre Zunahme zeigt
sich, nicht ihr Nachlassen. So als ob ein starker Mann meinen Kopf mit einem
scharfen Schwert aufspaltete, so schneiden ungestüme Winde durch meinen Kopf.
Es geht mir nicht besser, ich fühle mich nicht wohl. Meine schmerzhaften Gefühle
nehmen zu und lassen nicht nach; ihre Zunahme zeigt sich, nicht ihr Nachlassen.
So als ob ein starker Mann ein zähes Lederband wie ein Stirnband um
meinen Kopf zusammenzöge, so gibt es heftige Schmerzen in meinem Kopf. Es
geht mir nicht besser, ich fühle mich nicht wohl. Meine schmerzhaften Gefühle
nehmen zu und lassen nicht nach; ihre Zunahme zeigt sich, nicht ihr Nachlassen.
So als ob ein geschickter Schlachter oder sein Gehilfe den Bauch eines Ochsen
aufschlitzte, so schlitzen ungestüme Winde meinen Bauch auf. Es geht mir nicht
besser, ich fühle mich nicht wohl. Meine schmerzhaften Gefühle nehmen zu und
lassen nicht nach; ihre Zunahme zeigt sich, nicht ihr Nachlassen. So als ob zwei
starke Männer einen schwächeren Mann packten und ihn über einer Grube voll
heißer Kohlen rösteten, so gibt es ein heftiges Brennen in meinem Körper. Es
geht mir nicht besser, ich fühle mich nicht wohl. Meine schmerzhaften Gefühle
nehmen zu und lassen nicht nach; ihre Zunahme zeigt sich, nicht ihr Nachlassen.
Ich werde das Messer nehmen1), Freund Sàriputta; ich habe kein Verlangen zu
leben.“

6. „Der ehrwürdige Channa nehme das Messer nicht. Der ehrwürdige Channa
bleibe am Leben. Wir wollen, daß der ehrwürdige Channa lebt. Falls es ihn an
passender Nahrung mangelt, werde ich mich auf die Suche nach passender Nahrung
für ihn machen. Falls es ihn an passender Medizin mangelt, werde ich mich
auf die Suche nach passender Medizin für ihn machen. Falls es ihn an einem
richtigen Aufwärter mangelt, werde ich ihm aufwarten. Der ehrwürdige Channa
nehme das Messer nicht. Der ehrwürdige Channa bleibe am Leben. Wir wollen,
daß der ehrwürdige Channa lebt.“

7. „Freund Sàriputta, es ist nicht so, daß ich keine passende Nahrung oder
Medizin oder keinen richtigen Aufwärter habe. Vielmehr, Sàriputta, ist der Lehrer
lange Zeit auf erfreuliche Weise verehrt worden, nicht unerfreulich; denn es
ist für den Schüler angemessen, den Lehrer auf erfreuliche Weise zu verehren,
nicht unerfreulich. Freund Sàriputta, behalte dies im Gedächtnis: der Bhikkhu
Channa wird das Messer untadelig nehmen2).“

8. „Wir würden dem ehrwürdigen Channa gerne bestimmte Fragen stellen,
wenn es dem ehrwürdigen Channa gelegen ist zu antworten.“
„Frage, Freund Sàriputta. Wenn ich gehört habe, werde ich es wissen.“

9. „Freund Channa, betrachtest du das Auge, Sehbewußtsein und die Dinge,
die durch Sehbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist mein, dies
bin ich, dies ist mein Selbst3)‘? Betrachtest du das Ohr, Hörbewußtsein und die
Dinge, die durch Hörbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist mein,
dies bin ich, dies ist mein Selbst‘? Betrachtest du die Nase, Riechbewußtsein und
die Dinge, die durch Riechbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist
mein, dies bin ich, dies ist mein Selbst‘? Betrachtest du die Zunge, Schmeckbewußtsein
und die Dinge, die durch Schmeckbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen:
,Dies ist mein, dies bin ich, dies ist mein Selbst‘? Betrachtest du den
Körper, Berührungsbewußtsein und die Dinge, die durch Berührungsbewußtsein
erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist mein, dies bin ich, dies ist mein Selbst‘?
Betrachtest du den Geist, Geistbewußtsein und die Dinge, die durch Geistbewußtsein
erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist mein, dies bin ich, dies ist
mein Selbst‘?“
„Freund Sàriputta, ich betrachte das Auge, Sehbewußtsein und die Dinge, die
durch Sehbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist nicht mein, dies
bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich betrachte das Ohr, Hörbewußtsein
und die Dinge, die durch Hörbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies
ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich betrachte die
Nase, Riechbewußtsein und die Dinge, die durch Riechbewußtsein erfahrbar sind,
folgendermaßen: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘
Ich betrachte die Zunge, Schmeckbewußtsein und die Dinge, die durch Schmeckbewußtsein
erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich
nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich betrachte den Körper, Berührungsbewußtsein
und die Dinge, die durch Berührungsbewußtsein erfahrbar sind, folgendermaßen:
,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich betrachte
den Geist, Geistbewußtsein und die Dinge, die durch Geistbewußtsein
erfahrbar sind, folgendermaßen: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist
nicht mein Selbst.‘“

10. „Freund Channa, was hast du gesehen, was hast du mit höherer Geisteskraft
erkannt – im Auge, im Sehbewußtsein und den Dingen, die durch Sehbewußtsein
erfahrbar sind – daß du sie so betrachtest: ,Dies ist nicht mein, dies
bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst‘? Was hast du gesehen, was hast du mit
höherer Geisteskraft erkannt – im Ohr, im Hörbewußtsein und den Dingen, die
durch Hörbewußtsein erfahrbar sind – daß du sie so betrachtest: ,Dies ist nicht
mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst‘? Was hast du gesehen, was
hast du mit höherer Geisteskraft erkannt – in der Nase, im Riechbewußtsein und
den Dingen, die durch Riechbewußtsein erfahrbar sind – daß du sie so betrachtest:
,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst‘? Was hast
du gesehen, was hast du mit höherer Geisteskraft erkannt – in der Zunge, im
Schmeckbewußtsein und den Dingen, die durch Schmeckbewußtsein erfahrbar
sind – daß du sie so betrachtest: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist
nicht mein Selbst‘? Was hast du gesehen, was hast du mit höherer Geisteskraft
erkannt – im Körper, im Berührungsbewußtsein und den Dingen, die durch
Berührungsbewußtsein erfahrbar sind – daß du sie so betrachtest: ,Dies ist nicht
mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst‘? Was hast du gesehen, was
hast du mit höherer Geisteskraft erkannt – im Geist, im Geistbewußtsein und den
Dingen, die durch Geistbewußtsein erfahrbar sind – daß du sie so betrachtest:
,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst‘?“
„Freund Sàriputta, ich habe das Aufhören gesehen, ich habe das Aufhören mit
höherer Geisteskraft erkannt – im Auge, im Sehbewußtsein und den Dingen, die
durch Sehbewußtsein erfahrbar sind – deshalb betrachte ich sie so: ,Dies ist nicht
mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich habe das Aufhören gesehen,
ich habe das Aufhören mit höherer Geisteskraft erkannt – im Ohr, im Hörbewußtsein
und den Dingen, die durch Hörbewußtsein erfahrbar sind – deshalb
betrachte ich sie so: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein
Selbst.‘ Ich habe das Aufhören gesehen, ich habe das Aufhören mit höherer
Geisteskraft erkannt – in der Nase, im Riechbewußtsein und den Dingen, die
durch Riechbewußtsein erfahrbar sind – deshalb betrachte ich sie so: ,Dies ist
nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich habe das Aufhören
gesehen, ich habe das Aufhören mit höherer Geisteskraft erkannt – in der Zunge,
im Schmeckbewußtsein und den Dingen, die durch Schmeckbewußtsein erfahrbar
sind – deshalb betrachte ich sie so: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht,
dies ist nicht mein Selbst.‘ Ich habe das Aufhören gesehen, ich habe das Aufhören
mit höherer Geisteskraft erkannt – im Körper, im Berührungsbewußtsein
und den Dingen, die durch Berührungsbewußtsein erfahrbar sind – deshalb betrachte
ich sie so: ,Dies ist nicht mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein
Selbst.‘ Ich habe das Aufhören gesehen, ich habe das Aufhören mit höherer
Geisteskraft erkannt – im Geist, im Geistbewußtsein und den Dingen, die durch
Geistbewußtsein erfahrbar sind – deshalb betrachte ich sie so: ,Dies ist nicht
mein, dies bin ich nicht, dies ist nicht mein Selbst.‘“

11. Nach diesen Worten sagte der ehrwürdige Mahà Cunda zum ehrwürdigen
Channa: „Daher, Freund Channa, muß man dieser Lehre des Erhabenen ständig
Beachtung schenken: ,In einem, der sich auf etwas stützt, gibt es Unschlüssigkeit,
in einem, der sich auf nichts stützt, gibt es keine Unschlüssigkeit; wenn es
keine Unschlüssigkeit gibt, ist Stille vorhanden; wenn Stille vorhanden ist, gibt
es keine Voreingenommenheit; wenn es keine Voreingenommenheit gibt, gibt es
kein Kommen und Gehen; wenn es kein Kommen und Gehen gibt, gibt es kein
Sterben und Wiedererscheinen; wenn es kein Sterben und Wiedererscheinen gibt,
gibt es kein Diesseits und kein Jenseits und kein Dazwischen. Dies ist das Ende
von Dukkha.‘“

12. Dann, nachdem der ehrwürdige Sàriputta und der ehrwürdige Mahà Cunda
dem ehrwürdigen Channa diesen Rat gegeben hatten, erhoben sie sich von ihren
Sitzen und gingen fort. Kurz nachdem sie gegangen waren, nahm der ehrwürdige
Channa das Messer.

13. Dann ging der ehrwürdige Sàriputta zum Erhabenen, und nachdem er ihm
gehuldigt hatte, setzte er sich seitlich nieder und sagte zum Erhabenen: „Ehrwürdiger
Herr, der ehrwürdige Channa hat das Messer genommen. Was ist sein Bestimmungsort?
Was ist sein künftiger Weg?“
„Sàriputta, hat der Bhikkhu Channa nicht in deiner Gegenwart seine
Untadeligkeit verkündet?“
„Ehrwürdiger Herr, es gibt da ein Vajjier-Dorf namens Pubbajira. Dort hatte
der ehrwürdige Channa Umgang mit Familien, die seine Freunde waren, Familien,
die seine Vertrauten waren, Familien, die tadelnswert waren.“
„Es gibt da jene Familien, die Freunde des Bhikkhu Channa waren, Familien,
die seine Vertrauten waren, Familien, die tadelnswert waren; aber ich sage nicht,
daß er in diesem Ausmaß tadelnswert war. Sàriputta, wenn man diesen Körper
ablegt und an einem neuen Körper anhaftet, dann sage ich, ist man tadelnswert.
Davon war im Bhikkhu Channa nichts zu finden; der Bhikkhu Channa nahm das
Messer untadelig4).“
Das ist es, was der Erhabene sagte. Der ehrwürdige Sàriputta war zufrieden und
entzückt über die Worte des Erhabenen.

Anmerkungen:
1) Eine Umschreibung für Selbstmord.
2) Selbstmord ist eine unheilsame Handlung, die nur bei einem Arahant, der kein
Kamma mehr produziert und somit auch keine Folgen davon zu erwarten hat, als
untadelig gilt. Die Frage stellt sich, wie Selbstmord bei Edlen in höherer Schulung
zu bewerten ist. Sie können ja zumindest keine niedrige Geburt mehr als
Folge von Selbstmord ernten.
3) Der ehrwürdige Sàriputta will sichergehen, ob der ehrwürdige Channa nicht einer
Selbsttäuschung bezüglich seiner Arahantschaft erlegen ist.
4) Ein Arahant kann anscheinend kleinere Verstöße gegen die Ordensregeln begehen
(wenn auch nicht mit böser Absicht). Die Kommentatoren bevorzugen aber
die Annahme, daß der ehrwürdige Channa sich selbst überschätzt hatte, als er
dem ehrwürdigen Sàriputta seine Arahantschaft verkündete; die Befreiung habe
er erst im Augenblick seines Todes erlangt.