MN34 – Die kürzere Lehrrede über den Kuhhirten

Majjhima Nikàya 34

 

Die kürzere Lehrrede über den Kuhhirten

(Cúlagopàlaka Sutta)

1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene im Lande Vajji, bei Ukkàcelà, am Ufer des Ganges auf. Dort richtete er sich folgendermaßen an die Mönche: „Ihr Bhikkhus.“ – „Ehrwürdiger Herr“, erwiderten sie. Der Erhabene sagte dieses:

2. „Ihr Bhikkhus, es gab einmal einen törichten Kuhhirten aus Màgadha, der im letzten Monat der Regenzeit, im Herbst, ohne das diesseitige Ufer oder das jenseitige Ufer des Gangesflusses zu untersuchen, sein Vieh durch den Fluß zum anderen Ufer im Lande Videha trieb, an einer Stelle, an der es keine Furt gab. Da verknäuelte sich das Vieh in der Strommitte und erlitt Unglück und Elend. Warum war das? Weil jener törichte Kuhhirte aus Màgadha im letzten Monat der Regenzeit, im Herbst, ohne das diesseitige Ufer oder das jenseitige Ufer des Gangesflusses zu untersuchen, sein Vieh durch den Fluß zum anderen Ufer im Lande Videha trieb, an einer Stelle, an der es keine Furt gab.“

3. „Ebenso, ihr Bhikkhus, was jene Mönche und Brahmanen anbelangt, die ungeschickt sind in dieser Welt und in der anderen Welt, ungeschickt in Màra‘s Reich und dem, was außerhalb von Màra‘s Reich liegt, ungeschickt im Reich des Todes und dem, was außerhalb des Reichs des Todes liegt – es wird lange zum Schaden und zum Leid jener gereichen, die meinen, daß sie ihnen zuhören und Vertrauen in sie setzen sollten.“

4. „Ihr Bhikkhus, es gab einmal einen weisen Kuhhirten aus Màgadha, der im letzten Monat der Regenzeit, im Herbst, nachdem er das diesseitige Ufer und das jenseitige Ufer des Gangesflusses untersucht hatte, sein Vieh durch den Fluß zum anderen Ufer im Lande Videha trieb, an einer Stelle, an der es eine Furt gab. Er trieb die Bullen, die Zucht- und Leittiere der Herde zuerst hinein, und sie trotzten dem Strom des Ganges und gelangten sicher ans jenseitige Ufer. Er trieb das starke Vieh und das noch zu zähmende Vieh als nächstes hinein, und auch diese Tiere trotzten dem Strom des Ganges und gelangten sicher ans jenseitige Ufer. Er trieb die Färsen und Jungochsen als nächstes hinein, und auch sie trotzten dem Strom des Ganges und gelangten sicher ans jenseitige Ufer. Er trieb die Kälber und das schwache Vieh als nächstes hinein, und auch sie trotzten dem Strom des Ganges und gelangten sicher ans jenseitige Ufer. Zu der Zeit gab es ein zartes neugeborenes Kalb, und vom Muhen der Mutter gelockt, trotzte es ebenfalls dem Strom des Ganges und gelangte sicher ans jenseitige Ufer. Warum war das so? Weil jener weise Kuhhirte aus Màgadha im letzten Monat der Regenzeit, im Herbst, nachdem er das diesseitige Ufer und das jenseitige Ufer des Gangesflusses untersucht hatte, sein Vieh durch den Fluß zum anderen Ufer im Lande Videha trieb, an einer Stelle, an der es eine Furt gab.“

5. „Ebenso, ihr Bhikkhus, was jene Mönche und Brahmanen anbelangt, die geschickt sind in dieser Welt und in der anderen Welt, geschickt in Màra‘s Reich und dem, was außerhalb von Màra‘s Reich liegt, geschickt im Reich des Todes und dem, was außerhalb des Reichs des Todes liegt – es wird lange zum Wohlergehen und zum Glück jener gereichen, die meinen, daß sie ihnen zuhören und Vertrauen in sie setzen sollten.“

6. „Ihr Bhikkhus, genau wie die Bullen, die Zucht- und Leittiere der Herde dem Strom des Ganges trotzten und sicher ans jenseitige Ufer gelangten, so auch jene Bhikkhus, die mit der Vernichtung der Triebe Arahants geworden sind, die das heilige Leben gelebt haben, getan haben, was getan werden mußte, die Bürde abgelegt haben, das wahre Ziel erreicht haben, die Fesseln des Werdens zerstört haben und durch letztendliche Erkenntnis vollständig befreit sind – sie sind sicher ans jenseitige Ufer gelangt, indem sie Màra‘s Strom trotzten.“

7. „Genau wie das starke Vieh und das noch zu zähmende Vieh dem Strom des Ganges trotzte und sicher ans jenseitige Ufer gelangte, so auch jene Bhikkhus, die mit der Zerstörung der fünf niedrigeren Fesseln spontan (in den Reinen Bereichen) wiedererscheinen werden und dort Nibbàna erlangen werden, ohne je von jener Welt zurückzukehren – sie werden sicher ans jenseitige Ufer gelangen, indem sie Màra‘s Strom trotzen.“

8. „Genau wie die Färsen und Jungochsen dem Strom des Ganges trotzten und sicher ans jenseitige Ufer gelangten, so auch jene Bhikkhus, die mit der Zerstörung von drei Fesseln und mit der Verminderung von Gier, Haß und Verblendung Einmalwiederkehrer geworden sind, die noch einmal in diese Welt zurückkehren, um dem Leiden ein Ende zu bereiten – sie werden sicher ans jenseitige Ufer gelangen, indem sie Màra‘s Strom trotzen.“

9. „Genau wie die Kälber und das schwache Vieh dem Strom des Ganges trotzten und sicher ans jenseitige Ufer gelangten, so auch jene Bhikkhus, die mit der Zerstörung von drei Fesseln Stromeingetretene geworden sind, die nicht länger dem Verderben unterworfen sind, die auf dem Weg zur Befreiung sind, die der Erleuchtung entgegengehen – sie werden sicher ans jenseitige Ufer gelangen, indem sie Màra‘s Strom trotzen.“

10. „Genau wie jenes zarte neugeborene Kalb, das vom Muhen der Mutter gelockt, ebenfalls dem Strom des Ganges trotzte und sicher ans jenseitige Ufer gelangte, so auch jene Bhikkhus, die dem Dhamma ergeben sind, die dem Vertrauen ergeben 1) sind – sie werden sicher ans jenseitige Ufer gelangen, indem sie Màra‘s Strom trotzen.“

11. „Ihr Bhikkhus, ich bin geschickt in dieser Welt und in der anderen Welt, geschickt in Màra‘s Reich und dem, was außerhalb von Màra‘s Reich liegt, geschickt im Reich des Todes und dem, was außerhalb des Reichs des Todes liegt – es wird lange zum Wohlergehen und zum Glück jener gereichen, die meinen, daß sie mir zuhören und Vertrauen in mich setzen sollten.“

12. Das ist es, was der Erhabene sagte. Nachdem der Vollendete das gesagt hatte, fuhr der Lehrer fort:

Die Welt hier und die Welt danach
Hat der, der Wissen hat, erklärt;
Was noch zu Màra‘s Reich gehört
Und was dem Tod entronnen ist.

Weil er die Welt direkt erkannt,
Hat der Erleuchtete die Tür
Zum Todlosen hin aufgetan,
Zum sich‘ren Ufer Nibbàna.

Des Bösen Strom wird jetzt getrotzt,
Der Fluß gedämmt, das Riet entfernt.
So freut Euch, Bhikkhus, strebt dahin,
Wo Sicherheit zu finden ist.

Anmerkungen:
1) Interessant ist hier die Frage, warum zwischen den Stromeingetretenen und den Dhamma- und Vertrauensergebenen ein Unterschied gemacht wird: sie werden in Sachen spiritueller Stärke als dem Stromeingetretenen unterlegen geschildert. Schließlich führt der Zustand des Dhamma- und Vertrauensergebenen unfehlbar zum Stromeintritt. Eine Deutung wäre, daß hervorgehoben werden soll, daß der Zustand des Dhamma- und Vertrauensergebenen sich erst zum Stromeintritt, das heißt, der Vernichtung der ersten drei Fesseln entwickeln muß. In der Kommentarliteratur wird der Zustand des Vertrauensergebenen mit dem Pfadmoment identifiziert, der des Stromeingetretenen mit dem Fruchtmoment. Bestimmte Theorien besagen, daß Pfad- und Fruchtmoment unmittelbar aufeinander folgen, was aber nicht in Einklang mit dem Gleichnis zu bringen ist.