MN71 – An Vacchagotta über das dreifache wahre Wissen

Majjhima Nikàya 71

 

An Vacchagotta über das dreifache wahre Wissen

 (Tevijjavacchagotta Sutta)

1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Vesàlï, im Großen
Wald in der Spitzdach-Halle auf.

2. Bei jener Gelegenheit wohnte der Wanderasket Vacchagotta 1) im Wanderasketen-
Park des Einzelnen Mangobaums des Weißen Lotus.

3. Als es Morgen war, zog sich der Erhabene an, nahm seine Schale und äußere
Robe und ging um Almosen nach Vesàlã hinein. Da dachte der Erhabene: „Es
ist noch zu früh, um in Vesàlã um Almosen umherzugehen. Wie wäre es, wenn
ich zum Wanderasketen Vacchagotta im Wanderasketen-Park des Einzelnen
Weißen Lotus ginge?“

4. Dann ging der Erhabene zum Wanderasketen Vacchagotta im Wanderasketen-
Park des Einzelnen Weißen Lotus. Der Wanderasket Vacchagotta sah den Erhabenen
in der Ferne kommen und sagte zu ihm: „Möge der Erhabene 2) kommen,
ehrwürdiger Herr, der Erhabene sei willkommen. Es ist lange her, daß der Erhabene
die Gelegenheit fand, hierher zu kommen. Der Erhabene möge Platz nehmen;
dieser Sitz ist vorbereitet.“ Der Erhabene setze sich auf dem vorbereiteten
Sitz nieder, und der Wanderasket Vacchagotta nahm einen niedrigen Sitz ein,
setzte sich seitlich nieder und sagte zum Erhabenen:

5. „Ehrwürdiger Herr, ich habe dies gehört: ,Der Mönch Gotama behauptet,
allerwissend und allsehend zu sein, und auf folgende Weise vollständiges Wissen
und vollständige Schauung zu haben: ›Ob ich gehe oder stehe oder schlafe
oder wache, Wissen und Schauung sind mir ständig und ununterbrochen gegenwärtig 3).‹
Ehrwürdiger Herr, sagen jene, die so sprechen, das, was vom Erhabenen
gesagt worden ist, und stellen sie ihn nicht falsch dar, mit dem, was der
Wahrheit widerspricht? Erklären sie in Übereinstimmung mit dem Dhamma auf
eine Weise, so daß nichts, was einen Grund zum Tadeln schaffen könnte, berechtigterweise
aus ihren Behauptungen abgeleitet werden kann?“
„Vaccha, jene, die so sprechen, sagen nicht das, was von mir gesagt worden
ist, sondern stellen mich falsch dar, mit dem, was unwahr ist und der Wahrheit
widerspricht 4).“

6. „Ehrwürdiger Herr, wie sollte ich antworten, so daß ich das, was vom Erhabenen
gesagt worden ist, sagen kann, und ihn nicht falsch darstelle, mit dem, was
der Wahrheit widerspricht? Wie kann ich in Übereinstimmung mit dem Dhamma
auf eine Weise erklären, so daß nichts, was einen Grund zum Tadeln schaffen
könnte, berechtigterweise aus meinen Behauptungen abgeleitet werden kann?“
„Vaccha, wenn du so antwortest: ,Der Mönch Gotama hat das dreifache wahre
Wissen‘, dann wirst du sagen, was von mir gesagt worden ist, und mich nicht
falsch darstellen, mit dem, was der Wahrheit widerspricht. Du wirst in Übereinstimmung
mit dem Dhamma auf eine Weise erklären, so daß nichts, was einen
Grund zum Tadeln schaffen könnte, berechtigterweise aus deinen Behauptungen
abgeleitet werden kann.“

7. „Denn so weit wie ich es wünsche, erinnere ich mich an meine vielfältigen
früheren Leben, das heißt, an eine Geburt, zwei Geburten, drei Geburten, vier
Geburten, fünf Geburten, zehn Geburten, zwanzig Geburten, dreißig Geburten,
vierzig Geburten, fünfzig Geburten, hundert Geburten, tausend Geburten, hunderttausend
Geburten, viele Äonen, in denen sich das Weltall zusammenzog, viele
Äonen, in denen sich das Weltall ausdehnte, viele Äonen, in denen sich das Weltall
zusammenzog und ausdehnte: ,Dort wurde ich soundso genannt, war von solcher
Familie, mit solcher Erscheinung, solcherart war meine Nahrung, so mein
Erleben von Glück und Schmerz, so meine Lebensspanne; und nachdem ich von
dort verschieden war, erschien ich woanders wieder; auch dort wurde ich soundso
genannt, war von solcher Familie, mit solcher Erscheinung, war meine Nahrung
solcherart, so mein Erleben von Glück und Schmerz, so meine Lebensspanne;
und nachdem ich von dort verschieden war, erschien ich hier wieder.‘ So erinnere
ich mich an viele frühere Leben mit ihren Aspekten und Besonderheiten.“

8. „Und so weit ich es wünsche sehe ich mit dem Himmlischen Auge, das
geläutert und dem menschlichen überlegen ist, die Wesen sterben und wiedererscheinen,
niedrige und hohe, schöne und häßliche, in Glück und Elend und ich
verstehe, wie die Wesen ihren Handlungen gemäß weiterwandern: ,Diese geschätzten
Wesen, die sich mit Körper, Sprache und Geist übel benommen haben,
die die Edlen geschmäht haben, die falsche Ansichten hatten und diesen in ihren
Taten Ausdruck verliehen, sind bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode in
Umständen, die von Entbehrungen geprägt sind, wiedererschienen, an einem
unglücklichen Bestimmungsort, in Verderbnis, ja sogar in der Hölle; aber jene
geschätzten Wesen, die sich mit Körper, Sprache und Geist wohl benommen
haben, die die Edlen nicht geschmäht haben, die richtige Ansichten hatten und
diesen in ihren Taten Ausdruck verliehen, sind bei der Auflösung des Körpers,
nach dem Tode an einem glücklichen Bestimmungsort wiedererschienen, ja sogar
in der himmlischen Welt.‘ So sehe ich mit dem Himmlischen Auge, das geläutert
und dem menschlichen überlegen ist, die Wesen sterben und
wiedererscheinen, niedrige und hohe, schöne und häßliche, in Glück und Elend,
und ich verstehe, wie die Wesen ihren Handlungen gemäß weiterwandern.“

9. „Und durch eigene Verwirklichung mit höherer Geisteskraft, trete ich hier
und jetzt in die Herzensbefreiung, die Befreiung durch Weisheit, die mit der Vernichtung
der Triebe triebfrei ist, ein und verweile darin.“

10. „Wenn du so antwortest: ,Der Mönch Gotama hat das dreifache wahre
Wissen‘, dann wirst du sagen, was von mir gesagt worden ist, und mich nicht
falsch darstellen, mit dem, was der Wahrheit widerspricht. Du wirst in Übereinstimmung
mit dem Dhamma auf eine Weise erklären, so daß nichts, was einen
Grund zum Tadeln schaffen könnte, berechtigterweise aus deinen Behauptungen
abgeleitet werden kann.“

11. Nach diesen Worten fragte der Wanderasket Vacchagotta den Erhabenen.
„Meister Gotama, gibt es irgendeinen Haushälter, der, ohne die Fessel des Haushälterlebens
aufzugeben, bei der Auflösung des Körpers Dukkha ein Ende bereitet
hat 5)?“
„Vaccha, es gibt keinen Haushälter, der, ohne die Fessel des Haushälterlebens
aufzugeben, bei der Auflösung des Körpers 6) Dukkha ein Ende bereitet hat.“

12. „Meister Gotama, gibt es irgendeinen Haushälter, der, ohne die Fessel des
Haushälterlebens aufzugeben, bei der Auflösung des Körpers in eine himmlische
Welt gekommen ist?“
„Vaccha, es gibt nicht nur hundert oder zwei- oder drei- oder vier- oder fünfhundert,
sondern weit mehr Haushälter, die, ohne die Fessel des Haushälterlebens
aufzugeben, bei der Auflösung des Körpers in eine himmlische Welt gekommen
sind.“

13. „Meister Gotama, gibt es irgendeinen âjãvaka, der bei der Auflösung des
Körpers Dukkha ein Ende bereitet hat?“
„Vaccha, es gibt keinen âjãvaka, der bei der Auflösung des Körpers Dukkha
ein Ende bereitet hat.“

14. „Meister Gotama, gibt es irgendeinen âjãvaka, der bei der Auflösung des
Körpers in eine himmlische Welt gekommen ist?“
„Wenn ich an die letzten einundneunzig Äonen zurückdenke, erinnere ich mich
an keinen âjãvaka, der bei der Auflösung des Körpers in eine himmlische Welt
gekommen ist, mit einer Ausnahme, und er vertrat die Lehre von der sittlichen
Wirksamkeit von Handlung, von der sittlichen Wirksamkeit von Taten 7).“

15. „Nachdem das so ist, Meister Gotama, ist diese ganze Schar von Anhängern
anderer Sekten sogar leer von der Möglichkeit, in eine himmlische Welt zu
kommen.“
„Nachdem das so ist, Vaccha, ist diese ganze Schar von Anhängern anderer
Sekten sogar leer von der Möglichkeit, in eine himmlische Welt zu kommen.“
Das ist es, was der Erhabene sagte. Der Wanderasket Vacchagotta war zufrieden
und entzückt über die Worte des Erhabenen.

Anmerkungen:
1) M71 bis 73 sind ein Querschnitt durch die spirituelle Entwicklung des „Wanderasketen“
Vacchagotta. Die thematische Sammlung (Sa§yutta Nikàya) hat eine
ganze Reihe kurzer Dialoge zwischen ihm und dem Buddha. Die Geschichte
geht übrigens gut aus.
2) Dafür, daß er ein Angehöriger einer anderen spirituellen Richtung ist, spricht er
den Buddha bereits sehr ehrerbietig an.
3) Diese Art der Allwissenheit nimmt der Nigaõñha Nàtaputta für sich in Anspruch,
vgl. M14.
4) In M90 sagt der Buddha, daß es möglich ist, alles zu wissen und zu sehen, aber
nicht alles auf einmal. In A IV,24 sagt er, daß er alles Sichtbare, Hörbare, Fühlbare
und Erfahrbare kennt. Im Theravàda-Buddhismus wird das so interpretiert,
daß ein Buddha allwissend ist, in dem Sinne, daß ihm jegliches Wissen zugänglich
ist. Er weiß aber nicht alles zugleich, sondern wendet sich jeweils dem zu,
was er wissen will.
5) Eine Textstelle zur Frage, ob nur Mönche und Nonnen volle Erleuchtung erlangen
können. Der Buddha sagt nicht, daß Bhikkhu- oder Bhikkhunã-Ordination
Voraussetzung ist. Es gibt ein paar kanonische Beispiele von Laien, die
Arahantschaft erlangten. Laut Kommentar zogen sie alle entweder unmittelbar
anschließend in die Hauslosigkeit oder sie legten ihren Körper ab. In Thailand
wurden Acht-Tugendregeln-Nonnen, sogenannte Mae Chis, von Meistern, die
im Ruf höchster Verwirklichung stehen, als Arahants anerkannt. Das würde bedeuten,
daß unter „Fessel des Haushälterlebens aufgeben“ ein Leben in
Hauslosigkeit generell gemeint ist, unabhängig von der Ordinationslinie.
6) Vacchagotta fragt, ob „bei Auflösung des Körpers“ Dukkha ein Ende gemacht
wird, während der Buddha beim Beschreiben der Arahantschaft meist davon
spricht, daß „hier und jetzt“ Dukkha ein Ende gemacht wird. Offenbar hat Vaccha
leichte nihilistische Tendenzen in seinem Verständnis von der Lehre des Buddha,
wie sie auch in der Frühphase des Buddhismus im Westen verbreitet waren.
7) Die âjãvakas vertraten einen Fatalismus, der die Lehre von der sittlichen Wirksamkeit
von Handlung ablehnt. Erwähnte Ausnahme kann somit eigentlich nicht
als orthodoxer âjãvaka gelten. MA identifiziert ihn als den Bodhisatta in einem
früheren Dasein.