MN74 – An Dãghanakha

Majjhima Nikàya 74

 

An Dãghanakha (Dãghanakha Sutta)

1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Ràjagaha auf dem
Geiersberg in der Wildschwein-Höhle auf.

2. Da ging der Wanderasket Dãghanakha zum Erhabenen und tauschte Grußformeln
mit ihm aus 1). Nach diesen höflichen und freundlichen Worten stand er
zur Seite und sagte zum Erhabenen: „Meister Gotama, meine Lehrmeinung und
Ansicht ist dies: ,Für mich ist nichts annehmbar 2).‘“
„Diese deine Ansicht, Aggivessana, ,Für mich ist nichts annehmbar‘ – ist nicht
zumindest jene Ansicht für dich annehmbar?“
„Wenn diese meine Ansicht für mich annehmbar wäre, Meister Gotama, würde
es sich damit genauso verhalten, würde es sich damit genauso verhalten 3).“

3. „Nun, Aggivessana, es gibt viele in der Welt, die sagen: ,Es würde sich
damit genauso verhalten, es würde sich damit genauso verhalten‘, und doch überwinden
sie jene Ansicht nicht und sie nehmen noch manche andere Ansicht an.
Von jenen gibt es wenige in der Welt, die sagen: ,Es würde sich damit genauso
verhalten, es würde sich damit genauso verhalten‘, und die jene Ansicht überwinden
und keine andere Ansicht annehmen.“

4. „Aggivessana, es gibt einige Mönche und Brahmanen, deren Lehrmeinung
und Ansicht dies ist: ,Für mich ist alles annehmbar.‘ Es gibt einige Mönche und
Brahmanen, deren Lehrmeinung und Ansicht dies ist: ,Für mich ist nichts annehmbar.‘
Und es gibt einige Mönche und Brahmanen, deren Lehrmeinung und
Ansicht dies ist: ,Einiges ist für mich annehmbar, einiges ist für mich nicht annehmbar.‘
Unter diesen ist die Ansicht jener Mönche und Brahmanen, die die
Lehrmeinung und Ansicht vertreten ,für mich ist alles annehmbar‘, nahe der Begierde,
nahe dem Gefesseltsein, nahe dem Ergötzen, nahe dem Festhalten, nahe
dem Anhaften. Die Ansicht jener Mönche und Brahmanen, die die Lehrmeinung
und Ansicht vertreten ,für mich ist nichts annehmbar‘, ist nahe der Nicht-Begierde,
nahe dem Nicht-Gefesseltsein, nahe dem Nicht-Ergötzen, nahe dem Nicht-
Festhalten, nahe dem Nicht-Anhaften 4).“

5. Nach diesen Worten bemerkte der Wanderasket Dãghanakha: „Meister
Gotama heißt meine Art von Ansicht gut, Meister Gotama empfiehlt meine Art
von Ansicht.“
„Aggivessana, was jene Mönche und Brahmanen betrifft, die die Lehrmeinung
und Ansicht vertreten ,einiges ist für mich annehmbar, einiges ist für mich
nicht annehmbar‘ – ihre Ansicht ist bezüglich dessen, was für sie annehmbar ist,
nahe der Begierde, nahe dem Gefesseltsein, nahe dem Ergötzen, nahe dem
Festhalten, nahe dem Anhaften, während ihre Ansicht bezüglich dessen, was für sie
nicht annehmbar ist, nahe der Nicht-Begierde, nahe dem Nicht-Gefesseltsein,
nahe dem Nicht-Ergötzen, nahe dem Nicht-Festhalten, nahe dem Nicht-Anhaften
ist.“

6. „Aggivessana, ein Weiser unter jenen Mönchen und Brahmanen, die die
Lehrmeinung und Ansicht vertreten ,für mich ist alles annehmbar‘, erwägt so:
,Wenn ich stur an meiner Ansicht ›für mich ist alles annehmbar‹ festhalte und
erkläre, ›Nur dies ist wahr, alles andere ist falsch‹, dann könnte ich mit den zwei
anderen in eine Meinungsverschiedenheit geraten: mit einem Mönch oder Brahmanen,
der die Lehrmeinung und Ansicht vertritt ›für mich ist nichts annehmbar‹
und mit einem Mönch oder Brahmanen, der die Lehrmeinung und Ansicht vertritt
›einiges ist für mich annehmbar, einiges ist für mich nicht annehmbar‹. Mit
diesen zwei könnte ich in eine Meinungsverschiedenheit geraten, und wenn es
eine Meinungsverschiedenheit gibt, gibt es Streitgespräche; wenn es Streitgespräche
gibt, gibt es Zank; wenn es Zank gibt, gibt es Verdruß.‘ Weil er Meinungsverschiedenheiten,
Streitgespräche, Zank und Verdruß für sich vorhersieht,
überwindet er jene Ansicht und nimmt keine andere Ansicht an. Auf diese Weise
kommt das Überwinden dieser Ansichten zustande; auf diese Weise kommt das
Aufgeben dieser Ansichten zustande.“

7. „Ein Weiser unter jenen Mönchen und Brahmanen, die die Lehrmeinung
und Ansicht vertreten ,für mich ist nichts annehmbar‘, erwägt so: ,Wenn ich stur
an meiner Ansicht ›für mich ist nichts annehmbar‹ festhalte und erkläre, ›Nur
dies ist wahr, alles andere ist falsch‹, dann könnte ich mit den zwei anderen in
eine Meinungsverschiedenheit geraten: mit einem Mönch oder Brahmanen, der
die Lehrmeinung und Ansicht vertritt ›für mich ist alles annehmbar‹ und mit
einem Mönch oder Brahmanen, der die Lehrmeinung und Ansicht vertritt ›einiges
ist für mich annehmbar, einiges ist für mich nicht annehmbar‹. Mit diesen
zwei könnte ich in eine Meinungsverschiedenheit geraten, und wenn es eine
Meinungsverschiedenheit gibt, gibt es Streitgespräche; wenn es Streitgespräche
gibt, gibt es Zank; wenn es Zank gibt, gibt es Verdruß.‘ Weil er Meinungsverschiedenheiten,
Streitgespräche, Zank und Verdruß für sich vorhersieht, überwindet
er jene Ansicht und nimmt keine andere Ansicht an. Auf diese Weise
kommt das Überwinden dieser Ansichten zustande; auf diese Weise kommt das
Aufgeben dieser Ansichten zustande.“

8. „Ein Weiser unter jenen Mönchen und Brahmanen, die die Lehrmeinung
und Ansicht vertreten ,einiges ist für mich annehmbar, einiges ist für mich nicht
annehmbar‘, erwägt so: ,Wenn ich stur an meiner Ansicht ›einiges ist für mich
annehmbar, einiges ist für mich nicht annehmbar‹ festhalte und erkläre, ›Nur
dies ist wahr, alles andere ist falsch‹, dann könnte ich mit den zwei anderen in
eine Meinungsverschiedenheit geraten: mit einem Mönch oder Brahmanen, der
die Lehrmeinung und Ansicht vertritt ›für mich ist alles annehmbar‹ und mit
einem Mönch oder Brahmanen, der die Lehrmeinung und Ansicht vertritt ›für
mich ist nichts annehmbar‹. Mit diesen zwei könnte ich in eine
Meinungsverschiedenheit geraten, und wenn es eine Meinungsverschiedenheit gibt, gibt es
Streitgespräche; wenn es Streitgespräche gibt, gibt es Zank; wenn es Zank gibt,
gibt es Verdruß.‘ Weil er Meinungsverschiedenheiten, Streitgespräche, Zank und
Verdruß für sich vorhersieht, überwindet er jene Ansicht und nimmt keine andere
Ansicht an. Auf diese Weise kommt das Überwinden dieser Ansichten zustande;
auf diese Weise kommt das Aufgeben dieser Ansichten zustande 5).“

9. „Aggivessana, dieser Körper, der aus materieller Form besteht, sich aus den
vier großen Elementen zusammensetzt, von Mutter und Vater gezeugt wurde
und mittels gekochtem Reis und Reisbrei aufgebaut wurde, ist der Vergänglichkeit
unterworfen, unterworfen der Abnutzung und dem Abrieb, der Auflösung
und dem Verfall. Er sollte als vergänglich, als Dukkha, als eine Krankheit, als ein
Geschwür, als ein Stachel, als ein Unglück, als Leid, als fremd, als etwas, das
sich auflöst, als leer, als Nicht-Selbst betrachtet werden. Wenn man diesen Körper
so betrachtet, überwindet man die Gier nach dem Körper, die Verliebtheit in
den Körper, die Unterwürfigkeit gegenüber dem Körper.“

10. „Aggivessana, es gibt drei Arten von Gefühl: angenehmes Gefühl, schmerzhaftes
Gefühl und weder-schmerzhaftes-noch-angenehmes Gefühl. Wenn man
angenehmes Gefühl empfindet, empfindet man bei jener Gelegenheit kein
schmerzhaftes Gefühl oder weder-schmerzhaftes-noch-angenehmes Gefühl; bei
jener Gelegenheit empfindet man nur angenehmes Gefühl. Wenn man schmerzhaftes
Gefühl empfindet, empfindet man bei jener Gelegenheit kein angenehmes
Gefühl oder weder-schmerzhaftes-noch-angenehmes Gefühl; bei jener Gelegenheit
empfindet man nur schmerzhaftes Gefühl. Wenn man weder-schmerzhaftesnoch-
angenehmes Gefühl empfindet, empfindet man bei jener Gelegenheit kein
angenehmes Gefühl oder schmerzhaftes Gefühl; bei jener Gelegenheit empfindet
man nur weder-schmerzhaftes-noch-angenehmes Gefühl.“

11. „Angenehmes Gefühl, Aggivessana, ist vergänglich, gestaltet, bedingt entstanden,
der Vernichtung unterworfen, dem Verschwinden, Verblassen und Aufhören
unterworfen. Schmerzhaftes Gefühl ist auch vergänglich, gestaltet, bedingt
entstanden, der Vernichtung unterworfen, dem Verschwinden, Verblassen und
Aufhören unterworfen. Weder-schmerzhaftes-noch-angenehmes Gefühl ist auch
vergänglich, gestaltet, bedingt entstanden, der Vernichtung unterworfen, dem
Verschwinden, Verblassen und Aufhören unterworfen.“

12. „Indem ein wohlunterrichteter edler Schüler so sieht, wird er ernüchtert
gegenüber angenehmem Gefühl, ernüchtert gegenüber schmerzhaftem Gefühl,
ernüchtert gegenüber weder-schmerzhaftem-noch-angenehmem Gefühl. Wenn
er ernüchtert wird, wird er begierdelos. Durch Begierdelosigkeit ist sein Geist
befreit. Wenn er befreit ist, kommt das Wissen: ,Er ist befreit.‘ Er versteht: ,Geburt
ist zu Ende gebracht, das heilige Leben ist gelebt, es ist getan, was getan
werden mußte, darüber hinaus gibt es nichts mehr.‘“

13. „Ein Bhikkhu, dessen Geist so befreit ist, Aggivessana verbündet sich mit
niemandem und streitet sich mit niemandem; er bedient sich des gegenwärtig in
der Welt üblichen Sprachgebrauchs, ohne daran zu haften 6).“

14. Bei jener Gelegenheit stand der ehrwürdige Sàriputta hinter dem Erhabenen
und fächelte ihm Luft zu. Da dachte er: „Der Erhabene spricht in der Tat aus
höherer Geisteskraft vom Überwinden dieser Dinge; der Vollendete spricht in
der Tat aus höherer Geisteskraft vom Aufgeben dieser Dinge.“ Während der ehrwürdige
Sàriputta dies erwog, war sein Geist durch Nicht-Anhaften von den Trieben
befreit.“

15. Aber in dem Wanderasketen Dãghanakha erschien die fleckenlose, reine
Schau des Dhamma: „Alles, was dem Ursprung unterworfen ist, ist dem Aufhören
unterworfen.“ Der Wanderasket Dãghanakha sah das Dhamma, erlangte das
Dhamma, erkannte das Dhamma, drang in das Dhamma ein; er ließ den Zweifel
hinter sich, er wurde frei von Verwirrung, er erlangte Selbstvertrauen und wurde
in der Lehre des Lehrers von anderen unabhängig.“

16. Dann sagte er zum Erhabenen: „Großartig, Meister Gotama! Großartig,
Meister Gotama! Das Dhamma ist von Meister Gotama auf vielfältige Weise
klar gemacht worden, so als ob er Umgestürztes aufgerichtet, Verborgenes enthüllt,
einem Verirrten den Weg gezeigt oder in der Dunkelheit eine Lampe gehalten
hätte, damit die Sehenden die Dinge erkennen können. Ich nehme Zuflucht
zu Meister Gotama und zum Dhamma und zur Sangha der Bhikkhus. Möge
Meister Gotama mich von heute an als Laien-Anhänger, der zu ihm lebenslang
Zuflucht genommen hat, annehmen.“

Anmerkungen:
1) Dãghanakha war ein Neffe des ehrwürdigen Sàriputta. Dieser war zum Zeitpunkt
dieser Lehrrede erst zwei Wochen lang als Bhikkhu ordiniert und „erst“ ein Stromeingetretener.
2) MA identifiziert diese Position als nihilistisch, während BB Dãghanakha für einen
Skeptiker hält. Eine weitere Deutung ist denkbar: der Asket könnte zu denjenigen
gehören, die glauben, sie könnten die Fesseln des Ich, die ja auch anderen
spirituellen Traditionen bewußt sind, dadurch überwinden, daß sie die Fesseln
und deren Ausprägungen (z.B. Ansichten) ignorieren. In Indien und anderswo
gibt es zum Beispiel auch heute noch Asketen, deren Praxis darin besteht, das
Wort „Ich“ nicht zu verwenden. Dãghanakha durchschaut aber nicht, daß, solange
der Ansichtstrieb auf der Grundlage der Ich-Illusion besteht, jedes Ablehnen
von Ansichten automatisch zur Ansicht wird. Ein ähnliches Vorgehen auf philosophischer
Grundlage ist die Praxis einiger buddhistischer Schulen.
Anzumerken ist noch, daß im Buddhadhamma jegliche Ansicht, die die Funktion
hat, auf ein „Ich“ hinzuweisen, als falsche Ansicht gilt, und Richtige Ansicht
letztendlich das Überwinden jeglicher Ansicht ist.
3) Dãghanakha erkennt offenbar das Dilemma des inneren Widerspruchs; da ihm
aber die Lösung des Problems noch nicht zur Verfügung steht, nämlich die Vernichtung
der Grundlage für Ansichten, entscheidet er sich für den kleineren Widerspruch:
er widerspricht seiner Ansicht, erhält sie aber wenigstens aufrecht.
4) Jemand, der diese Position vertritt, hat zumindest die Gefahr in den Ansichten
bereits erkannt.
5) Der Buddha zeigt mit den drei vorangegangenen Abschnitten die Gefahr in jeglichen
Ansichten auf und schreitet fort, indem er dem Asketen den Weg zu Richtiger
Ansicht zeigt, den Weg zur Einsicht in die Natur des Daseins, den Weg zur
Überwindung jeglicher (falscher) Ansicht.
6) MA sagt zu Recht, daß ein Arahant das Wort „Ich“ benutzen kann, ohne es auf
ein „Ich“ zu beziehen. Man kann die Äußerung des Buddha noch weiter anwenden:
ein Arahant kann einen Standpunkt vertreten, ohne daß eine Ansicht (im
technischen Sinne) daraus wird.