MN58 – An Prinz Abhaya

Majjhima Nikàya 58

 

An Prinz Abhaya (Abhayaràjakumàra Sutta)

1. So habe ich gehört. Einmal hielt sich der Erhabene bei Ràjagaha im Bambushain,
dem Eichhörnchen-Park auf.

2. Da ging Prinz Abhaya 1) zum Nigaõñha Nàtaputta, und nachdem er ihm gehuldigt
hatte, setzte er sich seitlich nieder. Darauf sagte der Nigaõñha Nàtaputta
zu ihm:

3. „Komm, Prinz, widerlege die Lehre des Mönchs Gotama und ein guter Ruf
wird dir vorauseilen, der folgendes besagt: ,Die Lehre des Mönchs Gotama, der
so stark und mächtig ist, ist von Prinz Abhaya widerlegt worden.‘“
„Aber wie, ehrwürdiger Herr, soll ich seine Lehre widerlegen?“
„Komm, Prinz, geh zum Mönch Gotama und sage: ,Ehrwürdiger Herr, würde
der Tathàgata Worte äußern, die anderen unwillkommen und unangenehm sind?‘
Wenn der Mönch Gotama, nachdem er so gefragt wurde, antwortet: ,Der Tathàgata
würde Worte äußern, die anderen unwillkommen und unangenehm sind‘, dann
sage zu ihm: ,Was, ehrwürdiger Herr, ist dann der Unterschied zwischen dir und
einem Weltling? Denn ein Weltling würde auch Worte äußern, die anderen unwillkommen
und unangenehm sind.‘ Wenn der Mönch Gotama aber, nachdem er
so gefragt wurde, antwortet: ,Der Tathàgata würde nicht Worte äußern, die anderen
unwillkommen und unangenehm sind‘, dann sage zu ihm: ,Ehrwürdiger Herr,
warum hast du dann über Devadatta verkündet: ›Devadatta ist für Umstände, die
von Entbehrungen geprägt sind, bestimmt, Devadatta ist für die Hölle bestimmt,
Devadatta wird ein Äon lang (in der Hölle) bleiben, Devadatta ist unverbesserlich‹?
Devadatta war zornig und unzufrieden über diese deine Worte.‘ Wenn dem
Mönch Gotama von dir diese zweischneidige Frage gestellt wird, wird er weder
in der Lage sein, diese herunterzuschlucken, noch wird er in der Lage sein, sie
herauszuwürgen. Wenn ein Eisennagel im Hals eines Mannes steckenbliebe, wäre
er weder in der Lage, diesen herunterzuschlucken, noch wäre er in der Lage, ihn
herauszuwürgen; ebenso, Prinz, wenn dem Mönch Gotama von dir diese zweischneidige
Frage gestellt wird, wird er weder in der Lage sein, diese herunterzuschlucken,
noch wird er in der Lage sein, sie herauszuwürgen.“

4. „Ja, ehrwürdiger Herr“, erwiderte Prinz Abhaya. Dann erhob er sich von
seinem Sitz, und nachdem er dem Nigaõñha Nàtaputta gehuldigt hatte, nahm er
Abschied, wobei er ihm die rechte Seite zuwandte, und ging zum Erhabenen.
Nachdem er ihm gehuldigt hatte, setzte er sich seitlich nieder, blickte zur Sonne
und dachte: „Heute ist es zu spät, um die Lehre des Erhabenen zu widerlegen.
Ich werde die Lehre des Erhabenen morgen in meinem eigenen Haus widerlegen.“
Dann sagte er zum Erhabenen: „Ehrwürdiger Herr, möge der Erhabene
zusammen mit drei anderen zustimmen, die morgige Mahlzeit von mir anzunehmen.“
Der Erhabene stimmte schweigend zu.

5. Dann, als Prinz Abhaya wußte, daß der Erhabene zugestimmt hatte, erhob
er sich von seinem Sitz, und nachdem er ihm gehuldigt hatte, nahm er Abschied,
wobei er ihm die rechte Seite zuwandte. Als die Nacht vorüber war, als der Morgen
kam, zog sich der Erhabene an, nahm seine Schale und äußere Robe und
ging zum Haus des Prinzen Abhaya und nahm Platz auf dem vorbereiteten Sitz.
Dann bediente Prinz Abhaya eigenhändig den Erhabenen und verköstigte ihn mit
verschiedenen erlesenen Gerichten. Nachdem der Erhabene gegessen und seine
Hand von der Schale zurückgezogen hatte, nahm Prinz Abhaya einen niedrigen
Sitz ein, setzte sich seitlich nieder und sagte zum Erhabenen:

6.“Ehrwürdiger Herr, würde ein Tathàgata Worte äußern, die anderen unwillkommen
und unangenehm sind?“
„Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, Prinz.“
„Dann, ehrwürdiger Herr, haben die Niganthas in dieser Angelegenheit verloren 2).“
„Prinz, warum sagst du: ,Dann, ehrwürdiger Herr, haben die Niganthas in dieser
Angelegenheit verloren‘?“
Da erzählte der Prinz Abhaya dem Erhabenen seine gesamte Unterhaltung mit
dem Nigaõñha Nàtaputta.

7. Bei dieser Gelegenheit lag ein junges, zartes Kleinkind unbeholfen auf dem
Schoß des Prinzen Abhaya. Da sagte der Erhabene zum Prinzen Abhaya: „Was
meinst du, Prinz? Wenn dieses Kind ein Stöckchen oder einen Kieselstein in den
Mund stecken würde, während du oder dein Kindermädchen nicht darauf aufpaßt,
was würdest du dann mit ihm anfangen?“
„Ehrwürdiger Herr, ich würde es herausnehmen. Wenn ich es nicht sofort herausnehmen
könnte, würde ich seinen Kopf in die linke Hand nehmen, und indem
ich einen Finger der rechten Hand krümme, würde ich es herausnehmen, auch
wenn dabei Blut flösse. Warum ist das so? Weil ich Mitgefühl für das Kind habe.“

8. „Ebenso, Prinz, Worte, die der Tathàgata als unwahr, falsch und nicht nützlich
erkennt, und die auch anderen unwillkommen und unangenehm sind: solche
Worte äußert der Tathàgata nicht. Worte, die der Tathàgata als wahr und richtig,
aber nicht nützlich erkennt, und die auch anderen unwillkommen und unangenehm
sind: solche Worte äußert der Tathàgata nicht. Worte, die der Tathàgata als
wahr, richtig und nützlich erkennt, aber die anderen unwillkommen und unangenehm
sind: für den Gebrauch solcher Worte kennt der Tathàgata den richtigen
Zeitpunkt. Worte, die der Tathàgata als unwahr und falsch erkennt, aber die anderen
willkommen und angenehm sind: solche Worte äußert der Tathàgata nicht.
Worte, die der Tathàgata als wahr und richtig, aber nicht nützlich erkennt, und
die anderen willkommen und angenehm sind: solche Worte äußert der Tathàgata
nicht. Worte, die der Tathàgata als wahr, richtig, und nützlich erkennt, und die
anderen willkommen und angenehm sind: für den Gebrauch solcher Worte kennt
der Tathàgata den richtigen Zeitpunkt. Warum ist das so? Weil der Tathàgata
Mitgefühl für die Wesen hat.“

9. „Ehrwürdiger Herr, wenn gelehrte Adelige, gelehrte Brahmanen, gelehrte
Haushälter und gelehrte Mönche, nachdem sie eine Frage formuliert haben, zum
Erhabenen gehen und diese stellen, hat es dann bereits im Herzen des Erhabenen
den Gedanken gegeben: ,Wenn sie zu mir kommen und mich so und so fragen,
werde ich so und so antworten‘? Oder fällt dem Erhabenen jene Antwort auf der
Stelle ein?“

10. „Was das anbelangt, Prinz, werde ich dir eine Gegenfrage stellen. Antworte
nach Belieben. Was meinst du, Prinz? Kennst du dich mit den Teilen einer
Kutsche aus?“
„Ja, ehrwürdiger Herr, ich kenne mich aus.“
„Was meinst du, Prinz? Wenn Leute zu dir kommen und fragen: ,Wie heißt
dieses Teil der Kutsche?‘ hat es dann bereits in deinem Herzen den Gedanken
gegeben: ,Wenn sie zu mir kommen und mich so und so fragen, werde ich so und
so antworten‘? Oder fällt dir jene Antwort auf der Stelle ein?“
„Ehrwürdiger Herr, ich bin als Wagenlenker, der sich mit den Teilen einer
Kutsche auskennt, berühmt. Alle Teile einer Kutsche sind mir wohl bekannt.
Jene Antwort würde mir auf der Stelle einfallen.“

11. „Ebenso, Prinz, wenn gelehrte Adelige, gelehrte Brahmanen, gelehrte
Haushälter und gelehrte Mönche, nachdem sie eine Frage formuliert haben, zum
Tathàgata gehen und diese stellen, dann fällt dem Tathàgata die Antwort auf der
Stelle ein. Warum ist das so? Jenes Element der Erscheinungen 3) ist vom Tathàgata
vollständig durchdrungen worden, durch das vollständige Durchdringen dessen
fällt dem Tathàgata die Antwort auf der Stelle ein.“

12. Nach diesen Worten sagte Prinz Abhaya: „Großartig, ehrwürdiger Herr!
Großartig, ehrwürdiger Herr! Das Dhamma ist vom Erhabenen auf vielfältige
Weise klar gemacht worden, so als ob er Umgestürztes aufgerichtet, Verborgenes
enthüllt, einem Verirrten den Weg gezeigt oder in der Dunkelheit eine Lampe
gehalten hätte, damit die Sehenden die Dinge erkennen können. Ich nehme Zuflucht
zum Erhabenen und zum Dhamma und zur Sangha der Bhikkhus. Möge
der Erhabene mich von heute an als Laien-Anhänger, der zu ihm lebenslang Zuflucht
genommen hat, annehmen.“

Anmerkungen:
1) Ein Sohn von König Bimbisàra von Magadha.
2) Der Nigaõñha Nàtaputta ging davon aus, daß der Buddha eine eindeutige Antwort
geben würde. Da dies nicht der Fall war, war das von ihm konstruierte
Dilemma gegenstandslos.
3) „Element der Erscheinungen“ (dhammadhàtu); dieser Begriff bezeichnet auch
das Element der Geistesobjekte in der Liste der 18 Elemente. Sicherlich sind
beide Bedeutungen miteinander verwandt, es wurde aber eine unterschiedliche
Übersetzung gewählt, um eine Verwechslung des Sinnzusammenhangs zu vermeiden.
Im Mahàyàna hat das gleiche Wort die Bedeutung eines all durchdringenden
kosmischen Prinzips, was aber hier nicht gemeint ist. Laut MA bezieht
sich „Durchdringen des Elements der Erscheinungen“ auf die Allwissenheit des
Buddha.