Dharma

„Wir tragen unsere Ahnen mit uns in die Zukunft” -

Aus einer Dharmarede des Ehrw. Thich Nhat Hanh, Plum Village 13.07.2008 –

Übersetzung aus dem Englischen

„Ich trage meine Mutter und meinen Vater in mir,

und wenn ich hinschaue, sehe ich mich selbst in ihnen.

Der Buddha, die Partriarchen, sie sind in mir,

und wenn ich hinschaue, sehe ich mich selbst in ihnen.

Ich bin die Weiterführung  meiner Mutter und meines Vaters,

ich bin die Weiterführung aller meiner Brüder und Schwestern.

Es ist mein Bestreben,

die Samen des Gewahrseins, die Samen des Wissens, die Samen des Glücks,

die ich geerbt habe,

zu erhalten, weiter zu entwickeln und zu nähren.

Es ist auch mein Bedürfnis,

die Samen von Angst und Leid  zu erkennen,

die ich geerbt habe

und sie Stückchen für Stückchen zu transformieren.

Ich bin eine Weiterführung

des Buddhas und der Patriarchen

ich bin eine Weiterführung aller meiner spirituellen Lehrer.

Es ist mein tiefes Anliegen,

die Samen von Verständnis, die Samen der Liebe, die Samen der Freiheit

zu erhalten, weiter zu entwickeln und zu nähren,

die sie mir mitgegeben haben.

In meinem täglichen Leben möchte ich sie säen,

die Samen der Liebe und des Mitgefühls,

in meinem eigene Bewusstsein

und in den Herzen anderer Menschen.

Ich bin entschlossen, nicht

die Samen des Verlangens, der Abneigung und der Gewalttätigkeit in mir zu nähren.

Ich bin entschlossen, nicht

die Samen des Verlangens, der Abneigung und der Gewalttätigkeit in anderen zu nähren.

mit Nachdruck und Mitgefühl,

bekräftige ich dieses Ansinnen.

möge meine Praxis eine Opfergabe des Herzens sein,

möge meine Praxis eine Opfergabe des Herzens sein.“

Dieser Text wurde von Schwester Ten Tai Nghiem vertont – sie lebt im Brookcliff-Kloster in Nähe von New York.

Liebe Sangha, heute ist Sonntag, der 13. Juli im Jahre 2008. Ihr seid im Dharma-Nektar-Tempel, und heute ist der Tag unserer Vorfahren. Die Kinder sangen eben „ich trage meine Mutter und meinen Vater in mir und wenn ich mich selbst betrachte, erkenne ich mich in ihnen wider“. Das ist eine tiefgreifende Erkenntnis. Seid Ihr Euch darüber im Klaren, in welchem Ausmaß Ihr Eure Mutter und Euren Vater in Euch tragt? Gestern haben wir darüber gesprochen, einen Pflanzensamen in die Erde zu geben, ihn zu pflegen und etwa 10 Tage abzuwarten, bis sich eine junge Pflanze in dem Topf zeigt. In den buddhistischen Schriften wird sehr viel über Samen geschrieben – das Gleiche gilt für die christlichen Evangelien. Wenn Ihr dann diese junge Pflanze seht, könnt Ihr sie fragen: „Meine liebe Pflanze, erinnerst Du Dich? Vor zwei Wochen warst Du noch ein Samenkorn!“

Zu Beginn dieses Jahres haben wir einen Retreat in Italien organisiert, an dem auch viele Kinder teilgenommen haben. Mehr als 800 italienische Praktizierende waren gekommen. Anlässlich der letzten Veranstaltung im Rahmen dieses Retreats bot ich jedem Teilnehmer ein Samenkorn an. Ich hatte einen ganzen Sack voll Samenkörner vorher in einem der lokalen Supermärkte gekauft, es waren sicherlich über 1000 Samenkörner in dem Säckchen. Also bat ich jeden Teilnehmer, so ein Samenkorn mit nach Hause zu nehmen und dort einzupflanzen, jeden Tag zu gießen und zu beobachten wie es zu einer Pflanze heranwächst. Jeder Erwachsene und jedes Kind wurden gebeten einen Samen einzupflanzen und zu versorgen – es sollte die tägliche Praxis fortsetzen. Wenn Ihr beobachtet, wie aus einem Samenkorn eine Pflanze heranwächst, könnt Ihr erstmal zwei oder drei Blätter sprießen sehen. Zu diesem Zeitpunkt könnt Ihr das ursprüngliche Samenkorn nicht mehr erkennen. Ihr seht also die Pflanze, aber nicht mehr den Samen – aber Ihr könnt nicht sagen, dass das Samenkorn nun tot ist. Es ist nicht eingegangen. Es ist zur Pflanze geworden. Also wenn Ihr sorgfältig und weise schaut, könnt Ihr immer noch das Samenkorn wahrnehmen. „Meine liebe kleine Pflanze, kannst Du Dich erinnern? Vor zwei Wochen warst Du noch ein unscheinbares Samenkorn!“ Es mag vorkommen, dass die Pflanze vergessen hat, dass sie noch vor zwei Wochen ein Samenkorn war. Zwei Wochen sind eigentlich keine lange Zeit, aber trotzdem hat es die Pflanze vielleicht vergessen. So sagt Ihr: „Vor zwei Wochen warst Du ein Samenkorn und ich habe Dich jeden Tag  mit ein bisschen Wasser versorgt – deshalb bist Du jetzt eine kleine ansehnliche Pflanze geworden. Ich erinnere mich sehr gut daran!“ Ihr müsst sie daran erinnern, dass sie ein Samenkorn war. Das Samenkorn ist immer (noch) da, auch wenn Ihr es vielleicht jetzt nicht mehr auf den ersten Blick wahrnehmen könnt!

An den diesem speziellen Tag fragte ich die Retreat-Teilnehmer:

„Die Pflanze und das Samenkorn – sind sie ein und dasselbe oder zwei verschiedene Dinge?“

„Beide sind das Gleiche oder handelt es sich um zwei voneinander getrennte, unterschiedliche Dinge?“

Es gab drei mögliche Antworten auf diese Fragestellung:

1. Sie sind das Gleiche.

2. Sie sind zwei voneinander getrennte, unterschiedliche Dinge.

3. Sie sind weder das Gleiche, noch voneinander getrennte, unterschiedliche Dinge.

Die dritte Antwort ist korrekt. Es gibt kein „dies ist das gleiche“ und „das ist was anderes“!

Logisch betrachtet, seht Ihr, dass das Samenkorn ein Samenkorn ist. Eine Pflanze ist eine Pflanze. Eine Pflanze kann kein Samenkorn sein, und ein Samenkorn kann keine Pflanze sein. Das ist formale Logik. Aber wenn Ihr ganz genau hinschaut – ganz genau hinschauen meint hier, wenn Ihr darüber meditiert – denn meditieren bedeutet, dass Ihr Euch die Zeit nehmt, die Dinge ganz genau zu betrachten, dann seht Ihr, dass dieses Samenkorn und die Pflanze zwei verschiedene Dinge sind. Dennoch könnt Ihr erkennen, dass das eine nicht ohne das andere entstehen kann, weil das andere durch das eine entsteht.

Samenkorn und Pflanze: sie brauchen einander. Das eine ist die Bedingung für das andere.

Stellt Euch vor, Ihr schaut in Eurer Familienalbum und da seht Ihr Euch als Baby als Ihr zwei Wochen alt wart. Eure Mutter hat das Bild gemacht – und jetzt seid Ihr 12 oder 14 Jahre alt und seht Euch als dieses Baby. Ihr stellt fest, irgendwie schaut Ihr anders aus. Ihr fragt Euch: bin ich der-/dieselbe wie dieses Baby da oder bin ich jemand anders? Ihr unterscheidet Euch in vielen Aspekten: in Eurem Erscheinungsbild, in Bezug auf Eure geistigen Formationen, Eure Wahrnehmung usw.. Also ist es falsch zu sagen, Ihr seid genauso wie dieses Baby auf dem Bild. Aber im Gegenzug zu sagen, Ihr seid ein völlig anderes Wesen als das Baby ist auch verkehrt. Die Antwort findet sich in der Mitte oder „auf dem mittleren Weg“ – was eine sehr buddhistische Ausdrucksweise ist. Ihr seid nicht die gleichen, aber Ihr seid auch nicht völlig unterschiedlich oder gar voneinander getrennte Wesen.

Keine Gleichheit, keine Andersheit. Das ist eine weitere, tiefgründige Belehrung des Buddhas. Auch wenn Ihr noch richtig jung seid, könnt Ihr das verstehen. Wenn Ihr ganz tief in Euch geht, erkennt Ihr Euren Vater und Eure Mutter in Euch selbst wider. Aber so richtig klar, könnt Ihr das nur mit Hilfe von meditativer Praxis sehen. Die junge Pflanze hat vielleicht eine schwere Zeit, wenn sie das Samenkorn in sich selbst erkennt – aber es ist nun mal Fakt, dass sie die Fortsetzung Ihrer Mutter und Ihres Vaters ist. Also seid Ihr Euer Vater, und Ihr seid Eure Mutter! Ihr seht nicht genauso aus wie sie, aber Ihr tragt sie in Euch.

In Plum Village haben wir eine geführte Meditation, die geht so:

„Während ich einatme, erkenne ich die Anwesenheit meiner Mutter und meines Vaters in jeder Zelle meines Körpers.“

Versucht das als Realität in der Tiefe zu erkennen und zu fühlen.

„Wenn ich ausatme, lächle ich meiner Mutter und meinem Vater zu.“

Euer Vater und Eure Mutter haben sich selbst an Euch weitergegeben. Nicht ein Bankkonto oder ein tolles Auto haben sie Euch gegeben – nein, sie haben sich selbst an Euch gegeben. Sie sind in jeder Zelle Eures Körpers. Euer Vater und Eure Mutter sind Eure Herkunft.

Es gibt junge Leute, die sind sauer auf ihren Vater oder ihre Mutter und die sagen dann seltsame Dinge wie „dieser Mann da, ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben!“ Wenn Ihr wütend seid auf Euren Vater, sagt man sowas vielleicht. „Mit dieser Person möchte ich nichts mehr zu tun haben!“ Wenn Ihr außer Euch seid, lasst Ihr Euch möglicherweise zu so einer Aussage hinreißen. Aber, Fakt ist, es ist nicht wahr – es ist unmöglich: Ihr könnt Euren Vater nicht aus Euch selbst herausreißen! Wenn jemand sehr wütend wird, kann er die Realität nicht mehr erkennen. „Mein Sohn kann so nicht sein. Ich erkenne ihn nicht mehr als meinen Sohn wider!“ Das ist ebenfalls unsinnig! Er ist Deine Fortführung – Du trägst ihn in Dir selbst und Du bist in ihm enthalten. Vater und Sohn sollten üben, sich selbst in dem anderen wider zu erkennen – Gleiches gilt für Mutter und Tochter.

In einer anderen Dharmarede zu Beginn dieses Jahres habe ich noch einen weiteren Aspekt erläutert. Ihr tragt Euren Vater in Euch, aber Ihr habt auch immer noch einen Vater in der äußeren Welt! Der Vater „draußen“ und der Vater „drinnen“ mögen sich voneinander unterscheiden. Wieso ist dem so? Von dem Zeitpunkt an, als sich mein Vater an mich weitergab, waren der äußere und der innere Vater nahezu identisch. Aber, da ich in einer anderen Lebenssituation und in einer anderen Umgebung lebe, hat sich mein innerer Vater anders weiter entwickelt als mein äußerer Vater. Zum Beispiel könnte sich mein innerer Vater in eine positive Richtung transformiert haben, weil ich ein guter Praktizierender bin. Das heißt, meine eigene positive Entwicklung transformiert auch meinen inneren Vater. Das mag dazu führen, dass der Vater, den ich in mir trage, von größerer Schönheit ist, als der Vater, dem ich in der Außenwelt begegne. Diese beiden Väter haben sich also auf unterschiedliche Weise weiter entwickelt. Ich habe eine bessere Beziehung zu  meinem inneren Vater. Aber ich will die Beziehung zu meinem Vater in der Außenwelt gleichermaßen verbessern.  Wenn Ihr gute Praktizierende seid, sollte dies kein Problem sein. Ihr habt dann bereits Mitgefühl entwickelt. Wenn Ihr nicht genügend praktiziert habt, werdet Ihr immer noch jede Menge Groll in Euch tragen und könnt so Eurem Vater nicht wirklich helfen.

Wenn mein „äußerer Vater“ stirbt, wird mein „innerer Vater“ weiterhin da sein.  Und ich werde meinen inneren Vater an meine Söhne weitergeben.

Mein Vater und meine Mutter, sie sind meine Vorfahren, meine jüngsten Ahnen. Als menschliche Wesen haben wir menschliche Vorfahren. Wir haben mehrere Generationen von menschlichen Ahnen. Und von einer genetischen Ebene ausgehend, kann man sagen, sie leben immer noch in uns weiter. Wir tragen sie alle mit uns in die Zukunft und geben sie an unsere Kinder weiter. Wenn Ihr heiratet und bekommt Kinder, gebt Ihr Eure Vorfahren an Eure Kinder weiter und sie werden dadurch mit in die Zukunft getragen.

Hier in Plum Village feiern wir jedes Jahr den „Tag der Vorfahren“. Wir schauen uns unsere Beziehung(en) zu unseren Vorfahren ganz genau an. Wenn Ihr in Eurer Verbindung zu Euren Vorfahren tief verwurzelt seid, seid Ihr stark. Wenn Ihr dahingegen entwurzelt seid, werdet Ihr schwach und anfällig für die Wechselfälle des Lebens. In Ländern wie Vietnam hat jede Familie in ihrem Haus einen Schrein für die Vorfahren. Wir ehren damit unsere Ahnen. Auch wenn die Leute nicht reich sind, haben sie diesen Altar in der Mitte ihres Hauses. Auf den Altar kommen Räucherstäbchen und vielleicht noch Blumen und andere Opfergaben.

Wenn wir weinen, weinen unsere Vorfahren mit. Wenn wir einer Dharmarede zuhören, hören unsere Vorfahren mit. Das ist wunderbar.

Die tägliche Praxis für die Ahnen besteht darin, den Altar zu reinigen, also von Staub zu befreien, die Blumen frisch zu machen und ein neues Räucherstäbchen zu entzünden usw. Warum machen wir das alles? Während wir dies tun, kommen wir mit unseren Vorfahren in Berührung – dies stärkt unsere Wurzeln und die Verbindung mit unseren Ahnen. Wo immer wir auch hingehen – wir fühlen uns mit unseren Vorfahren tief verbunden. Wir fühlen uns nicht fremd in der Welt. Dies ist das Gute an der Verehrung der Ahnen.

Für gewöhnlich haben die Vorfahren ein Recht darauf zu erfahren, wenn es etwas Neues in der Familie gibt. Zum Beispiel, wenn Euer Kind morgen das erste Mal in die Schule geht, sollten sie es erfahren und Ihr solltet Ihren Segen erbitten. Vielleicht habt Ihr jetzt die Vorstellung, dass Eure Ahnen dort auf dem Altar vor Euch sitzen – dem ist natürlich nicht so: Eure Ahnen befinden sich in Euch selbst mittels all der Gene, die sie an Euch weitergegeben haben. Wann immer Ihr mit Problemen konfrontiert seid, könnt Ihr Euch mit der Bitte um Unterstützung vertrauensvoll an Eure Vorfahren wenden.

Bittet die zuverlässigen Zellen Eurer Großeltern in Euch um Hilfe – sie werden Euch unterstützen. Wenn Ihr wisst, wie Ihr respektvoll mit Euren Vorfahren in Kontakt tretet, könnt Ihr bisweilen sogar Krankheiten wie Krebs überwinden.

Tatsache ist, wo auch immer Ihr hingeht, Eure Vorfahren gehen mit – Ihr tragt sie in Euch. Ihr könnt den Schwierigkeiten in Eurem Leben viel besser begegnen, wenn Ihr Euch das bewusst macht. Wenn Ihr Euch entschließt, Eure Tochter an einen Mann in einer anderen Stadt zu verheiraten, solltet Ihr Eure Vorfahren darüber informieren: „Liebe Ahnen, wir haben uns dazu entschieden, unsere Tochter an einen Mann in einer anderen Stadt zu verheiraten – wir bitten in dieser Angelegenheit um Euren Segen“. Auf diese Art praktizieren wir in Vietnam, China und überall in Asien täglich.

Heute haben wir also unseren Tag der Vorfahren. Wir haben Ahnen im Rahmen unserer Blutsverwandtschaft, wir haben aber auch spirituelle Vorfahren. Für Christen ist es z.B. Jesus. Auch wir tragen die christlichen Vorfahren in uns. Das Christentum wurde in diesem Teil der Welt an Euch weitergegeben, das bedeutet Ihr tragt Jesus in jeder Zelle Eures Körpers in Euch. Wenn ihr ein Problem habt, könnt Ihr zu ihm beten und er ist nicht weit entfernt, er ist nicht irgendwo im Himmel. Ihr könnt diesen Christus in jeder Zelle Eures Körpers berühren. Wenn Ihr ein guter, praktizierender Christ seid, ist Christus in jedem Moment für Euch erreichbar. Wenn Ihr Buddhisten seid, sind Buddha, Ananda und Sariputra Eure spirituellen Ahnen. Die Gene von Buddha, Ananda und Sariputra sind in jeder Zelle Eures Körpers. Die Weitergabe einer Ahnenlinie ist auf genetischem und spirituellem Weg möglich.

Als Lehrer gebt Ihr Euch auf spirituellem Weg weiter – nicht genetisch. Da gibt es diejenigen unter uns, die tragen beide, Jesus und Buddha in sich als Vorfahren. Das ist völlig in Ordnung und muss nicht zu Konflikten führen. Die fünf Achtsamkeitsübungen sind sehr christlich. Wenn man genau hinschaut, findet man die Grundideen im christlichen Glaubenssystem wider – es gibt da keinen Konflikt. Ihr habt das Recht darauf, mehrere spirituelle Vorfahren zu haben. Es ist so ähnlich wie beim Kochen: Ihr mögt vielleicht die italienische Küche, aber die französische Küche findet Ihr auch gut.

Wir haben auch tierische Ahnen. Guckt Euch das in Eurer Meditation genau an. Unsere Vorfahren sind nicht nur menschlicher Natur – tatsächlich ist die menschliche Rasse noch sehr jung. Bevor sich der Mensch entwickelte, gab es bereits die Tiere. Sie sind unsere Ahnen. Es ist sehr aufregend zu lernen, woher wir kommen. Welches Tier ward Ihr bevor Ihr in der menschlichen Daseinsform wiedergeboren wurdet? Also bin ich ein menschliches Wesen, aber meine tierischen Vorfahren leben immer noch in mir. Gemäß den buddhistischen Schriften trage ich ein Eichhörnchen, einen Vogel, einen Fisch und ein Reh in mir. Das ist nicht nur Weltanschauung, das hat auch durchaus eine wissenschaftliche Ebene. Ihr wart auch ein Fisch, ein Vogel, ein Rotwild – heute fühle ich sie wieder alle in mir. Ich habe tierische Ahnen. Wenn Ihr erstmal Eure tierischen Vorfahren kennen gelernt habt, werdet Ihr im Hier und Jetzt viel freundlicher zu Euren tierischen Mitwesen sein. Ihr werdet dann Eure Vorfahren sicherlich nicht essen wollen. Denn es ist nicht besonders nett, die eigenen Vorfahren zu verspeisen, oder?

Darüber hinaus haben wir pflanzliche Vorfahren. In der Tat – Pflanzen gab es schon lange vor den Tieren. In einem vergangenen Leben warst Du eine Palme, eine Wasserpflanze, vielleicht auch ein Champignon – warum nicht? Ihr solltet Euch das ganz genau vergegenwärtigen: Ihr setzt Euch zum großen Teil aus Pflanzen und Tieren zusammen! Ihr stammt von Ihnen ab. Wenn Ihr Euch an diese Tatsache erinnert, werdet Ihr den Wunsch entwickeln, das Pflanzen- und Tierreich zu schützen. Ihr werdet auf eine Art und Weise leben wollen, dass Ihr die anderen Naturreiche (be)schützen könnt.

Und wenn wir noch genauer hinschauen, entdecken wir auch noch unsere mineralischen Vorfahren: Wasser, Erde, Felsen und Staub. Ihr seid aus Sternen gemacht, aus Mineralien – ohne Mineralien gäbe es keine Pflanzen oder Tiere.

Deshalb ist es überaus wichtig, sich hinzusetzen und sich alle Ahnen zu vergegenwärtigen – menschliche, tierische, pflanzliche und mineralische.

Im Diamant-Sutra sagte Buddha, es gibt vier grundlegende Ideen, die es zu verwerfen gilt.

Eine davon ist die Illusion eines (seperaten) menschlichen Wesens:

Buddha bat seine Jünger, tief in das eigene Wesen zu schauen. Denn das menschliche Wesen ist eigentlich aus nicht-menschlichen Elementen zusammengesetzt -  nämlich hauptsächlich aus Tieren, Pflanzen und Mineralien. Das heißt, erst wenn Ihr Euch die Menschen mit all Ihren Komponenten anschaut, habt Ihr das Wesen der Menschen wirklich realisiert. Wenn Ihr das nicht durchschaut habt, tragt Ihr immer noch eine falsche, verzerrte Wahrnehmung über die Natur des Menschen  und damit eine Illusion in Euch, die zerstört werden muss. Das Diamant-Sutra ist damit eines der geradlinigsten Sutras, wenn es darum geht, den Menschen einen Weg zu einem umweltbewussteren Leben aufzuzeigen.

Es gibt folgende Aufgabe für heute: nehmt ein Stück Papier und notiert darauf alle Eure Vorfahren, an die Ihr Euch erinnern könnt: Blutverwandtschaft, spirituelle, tierische, pflanzliche und mineralische Vorfahren.

Ihr verliert Euer künstliches, konstruiertes Selbst, wenn Ihr die Namen Eurer Ahnen niederschreibt. Dazu braucht Ihr Achtsamkeit und Konzentration, um Euch auch wirklich erinnern zu können – gerade auch wenn es um die Erinnerung an die spirituellen, tierischen, pflanzlichen und mineralischen Ahnen geht.

Die Vorfahren auf diese Weise zu berühren, macht uns widerstandsfähiger (solider) und ermöglicht uns mehr Mitgefühl – kurz gesagt, macht uns stärker.

21. Juli 2008 Texte Keine Kommentare