Und Nagarjuna zückte sein Schwert der Weisheit …

nagarjuna2Im Winterretreat 2009/10 mit Zen-Meister Thich Thien Son haben wir uns neun Tage lang mit den Lehren des berühmten buddhistischen Gelehrten Nagarjuna (geb. im 2. Jahrhundert n.Chr.) unter dem Thema „Loslassen” beschäftigt. Wie kaum ein anderer vermochte es Nagarjuna, den zu seiner Zeit in vielen Bereichen erstarrten Buddhismus, mit neuen Impulsen zu beleben.

Dank seiner soliden Grundlage in den traditionellen buddhistischen Schriften, vor allem im Abhidhamma, seiner Studien im Rahmen der Bewusstseinsschule (Consiousness-only) sowie seiner tiefen Einsicht in die indische Philosophie und Psychologie der Veden und Upanishaden konnte er mit Hilfe seines scharfen Verstandes dem Mahayana-Buddhismus eine neue und nachhaltige Richtung geben. Seine Lehren sind der Grundstein der so genannten Schule des Mittleren Weges (Madhyamika) und beeinflussen auch heute noch vor allem den tibetischen und den Zen-Buddhismus.

Zwei Begriffe und Themen, denen man in Nagarjunas Texten immer wieder begegnet, sind die Leerheit (sunyata) und die Dualität.

Letztere bestimmt unser Alltagsleben: Tag und Nacht, Glück und Leid, arm und reich sind nur einige Beispiele für dualistische Paare, deren wir uns gerne und regelmäßig bedienen.

Wozu brauchen wir eigentlich diese ständige und allgegenwärtige Dualität?

Wir benötigen sie, um uns voneinander abzugrenzen. Nur indem wir unserem Anderssein Ausdruck verleihen können, können wir uns definieren. Unser Ich-Gefühl hängt ganz entscheidend davon ab, ob wir besser oder schlechter sind als unsere Kollegen. Erweckt jemand den Eindruck „genauso zu sein wie wir”, geben wir nicht eher Ruhe, bis wir ein uns voneinander unterscheidendes Merkmal gefunden haben.

Gleichheit hat eine bedrohliche Wirkung auf unser Ego – die unterschwellige Angst, sich in einer undefinierbaren (= nicht unterscheidbaren) Masse zu verlieren oder aufzulösen, tritt an die Oberfläche unseres Bewusstseins. „Ja, wir sind beide Therapeuten – aber weißt Du, ich habe viel schwierigere Klienten als Du!” Nur in der Abgrenzung spüren wir unsere (vermeintliche) Identität und Individualität – wir können uns positionieren. Die Illusion der Einzigartigkeit gibt uns Sicherheit und das Gefühl der Existenzberechtigung.

Sind wir also alle gleich und merken es nicht? Nagarjuna würde antworten: Wir sind weder alle gleich noch unterscheiden wir uns voneinander. Es ist wie mit dem Orangensamen und den Früchten, die wir (hoffentlich!) später nach dem Säen ernten können: Es stimmt, wir werden mit Sicherheit keine Mangos ernten, es werden Orangen sein. Dennoch unterscheiden sich die Früchte von den Samenkörnern, auch wenn es sich in beiden Fällen um „Orangen” handelt. Der Same und die Frucht sind also nicht identisch, aber auch nicht völlig voneinander zu unterscheiden.

Der Samen ist die Vorbedingung für die Frucht. Dies führt uns zu einer weiteren – allgemein im Buddhismus verbreiteten – Gesetzmäßigkeit: Die Dinge entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit. Mit anderen Worten, jedes Entstehen ist bedingt. Ursache und Wirkung bestimmen die Dynamik unseres Seins.

Was bedeutet das für unseren Alltag?

So lange wir an bestimmten Überzeugungen und Konzepten festhalten, schaffen wir die Voraussetzung für das Entstehen des dualistischen Gegenpols. Das heißt: Wenn wir ständig unseren Mann fragen „Liebst Du mich?” erzeugen wir aufgrund der von Nagarjuna beschriebenen Gesetzmäßigkeit der Dualität, die Energie des Gegenpols. Je mehr wir uns nach Liebe sehnen, umso mehr lösen wir im Partner den Wunsch nach Abgrenzung bis hin zu Wutgefühlen und Hass aus. Denn Liebe und Hass sind der dualistische Ausdruck der gleichen Energie. In beiden Ausdrucksformen geht es um die Verbindung – im Falle der Liebe wird sie angestrebt und im Falle des Hasses wird sie zurückgewiesen.

Wie können wir aus dieser Dualität aussteigen und sie loslassen?

Dreh- und Angelpunkt unserer selbstgeschaffenen Dualität sind unsere Annahmen. Unser Kopf ist voll von Annahmen über die Welt und die Natur der Dinge. Über Annahmen definieren wir unsere Existenz. Wenn wir z.B. unsere Beziehungen zu Freunden darüber definieren, dass wir nützlich für sie sein müssen, würde das Loslassen der Annahme „Ich muss nützlich für meine Freunde sein” die (Existenz)grundlage für unsere Freundschaften gefährden.

Der Prozess des Loslassens ist nur erfolgreich, wenn wir unsere Annahmen nicht nur auf der geistigen, sondern auch auf der körperlichen Ebene loslassen. Jemand will sich z.B. von seiner Partnerin trennen. Er hat erkannt, die Beziehung tut ihm nicht gut, er fühlt sich nur noch kontrolliert. Sein Kopf sagt ihm, „ich will die Beziehung beenden.” Auf der körperlichen Ebene aber, ist da diese Sehnsucht – nach Zweisamkeit und Geborgenheit. So lange wir an unseren Annahmen auf der materiellen Ebene festhalten, wird uns das Loslassen nicht vollends gelingen.

Folglich löst das Loslassen von unsere Existenz bestimmenden Annahmen erst einmal intensive Angstgefühle und Widerstände in uns aus.

Dennoch liegt genau hier unsere große Chance: Wenn wir es mit Hilfe von geistigem Training schaffen, unsere Annahmen zu identifizieren und zu verändern, können wir uns Stück für Stück aus unserem inneren Gefängnis befreien. Wir sind dann plötzlich in der Lage, nicht nur den Schmutz vor uns auf der Straße zu sehen, sondern auch die blühenden Blumen am Straßenrand. Der Radius unseres Gesichtsfeldes vervielfacht sich.

Leerheit, nach Nagarjuna, bedeutet, frei von (festen) Annahmen zu sein. Denn nur dann können wir die Offenheit und Unvoreingenommenheit in jedem Augenblick unseres Lebens praktizieren. Wenn wir offen sind und unsere Wahrnehmung über die sechs Sinne entsprechend geschult haben, sehen wir die Dinge, wie sie wirklich sind, jenseits der Dualität: Leer von selbsthafter Substanz, vergänglich und daher veränderbar.

11. Januar 2010

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