Der Wasserbüffel als Verkörperung eines Bodhisattva

Wasserbüffel mit BodhisatvaVor langer langer Zeit…

…gab es weit oben im Himmel zwei Engel, die sich sehr lieb hatten. Sie wollten daher heiraten. Auf der Erde ist es so, dass man sich ohne größere Probleme scheiden lassen kann, sollte man dann doch nicht so recht zusammen passen. Aber im Himmel ist das anders. Vor Gott muss eine Ehe für die Ewigkeit halten, daher sagte Gott zu den beiden Engeln, dass sie sich zunächst einer Prüfung unterziehen müssten, bevor sie sich das Ja-Wort geben dürften.

Er gab ihnen daher folgende Aufgabe, um zu prüfen, ob ihre Liebe stark und standhaft genug für die Ewigkeit wäre. Gott sagte: „Irgendwo hier im Kosmos habe ich eine neue Samsara-Welt geschaffen – mit Bergen und Flüssen, sonst gibt es dort noch nichts. Es ist Eure Aufgabe dort hin zu gehen. Die Engelfrau bekam den Auftrag, Schönheit in die Welt zu bringen. Sie sollte Blumen und früchtetragende Bäume pflanzen. Der Mann erhielt einen Sack Saatgut und sollte für das leibliche Wohl der Samsara-Bewohner Sorge tragen.

Der liebe Gott war sich dessen bewusst, dass Liebe vielleicht nur einen kurzen Moment überdauert. Wenn man dann länger zusammen ist und aufeinander aufpassen muss, gibt es schnell Stress und Reibungen. Wir als Menschen kennen das ja nur zu gut: wir waren schon oft verliebt und haben erlebt, wie schnell diese Verliebtheit vorübergeht. Spätestens dann, wenn die Frau sagt, “Liebling, bring doch mal den Müll raus“ oder „Guck mal, da steht so viel Geschirr in der Spüle, willst Du nicht den Abwasch erledigen“, verlieren sich romantische Gefühle füreinander schnell . Gott sagte also, bleibt ein paar Jahre auf der Erde, überprüft Eure Gefühle füreinander, dann kehrt ihr zurück und wir sehen, ob ich Euch dann verheiraten kann.

Jahre vergingen…

Die Frau war gleich sehr fleissig. Sie nahm ihr Saatgut und säte überall auf dem flachen Land Blumen, um die Landschaft zu verschönern. An Berghängen pflanzte sie Obstbäume. Der Mann beobachtete die Aktivitäten seiner Frau und fragt dann irgendwann: „Liebling, Du bist so eifrig, ist da noch irgendwo Platz für meine Saatkörner?“ Die Frau antwortete: „Mein Lieber, ich habe versucht, meine Aufgabe gut zu machen. Du musst jetzt halt schauen, wo Du noch ein Eckchen für Dein Getreide findest. Schau‘ mal da drüben in diesem Schlammgebiet ist noch was frei.“ Er guckt und ist erstmal beleidigt. Es vergehen Tage und schließlich Jahre, überall blühen Blumen und gedeihen Obstbäume und der Mann ist immer noch beleidigt. Die Frau lässt ihn in Ruhe – sie hat genug Abwechslung und Beschäftigung – die ganzen Pflanzen wollen versorgt werden. Nachdem nun schon einige Jahre vergangen sind, erinnert sich der Mann daran, dass er ja eine Aufgabe von Gott bekommen hatte und er und seine Frau ja eigentlich nach getaner Arbeit in den Himmel zurückkehren wollten, um endlich ihre Ehe standesgerecht zu schließen. Also beginnt er, überall im Schlamm Saatkörner zu verteilen. Er tut dies nicht besonders gewissenhaft, aber immerhin. Und – wer hätte das gedacht – da es sich um Reis handelte, wuchs und gedieh er prächtig in dem feuchten Schlamm. Der Mann freut sich sehr – jetzt können sie also doch noch in den Himmel zurückkehren und Gott von ihren Erfolgen berichten.

“Habt ihr Euch immer noch lieb?”

Sie kamen also im Himmel an und Gott fragte sogleich: „Na, was habt Ihr denn zu berichten? Wie ist es gelaufen bei Euch?“ Die Frau berichtete: „Oh, ich habe überall, auf allen Kontinenten, Blumen und Bäume gepflanzt – es sieht wunderschön aus!“ Der Mann sagte: „Weißt Du, lieber Gott, es blieb mir gar nichts anderes mehr übrig, als meine Saatkörner in die Sumpfgebiete zu säen, da meine Frau mir überall sonst zuvor gekommen ist. Ich habe meine Saat nur noch in Asien unterbringen können.“ Und Gott zog eine Augenbraue hoch und fragte die beiden: „Und, liebt Ihr Euch immer noch?“ Der Mann guckt seine Frau von der Seite an und blickt dann zu Gott und sagt: „Habe ich meine Aufgabe gut gemacht?“ Gott antwortete: „Also, ich weiß nicht, Deine Frau hat überall ihre Blumen und Bäume gepflanzt, die ganze Samsara-Welt ist voll davon, aber Du hast Deine Saatkörner nur in Asien verstreut – das ist nicht besonders glorreich!“ Daraufhin sagte der Mann zu seiner Verlobten: „Siehst Du, es ist Deine Schuld, ich wollte meine Körner auch überall verteilen, aber Du hast mir nicht die Möglichkeit dazu gegeben.“ Aber zum lieben Gott sagte er – die Zähne aufeinander beißend – „ja, wir lieben uns immer noch!“

“Ich zaubere Dir ein Tier, dass Dir helfen kann…”

Gott schiebt eine große Wolke zur Seite und schaut herab auf die Samsara-Welt: es gedeiht alles wunderbar – überall wunderschön anzusehende Blumen und dicke Früchte tragende Bäume. Aber die wenigen Reisfelder, die es gibt, sind noch nicht einmal sorgfältig angelegt. In seiner Hektik und Eile hatte der Mann auch unterwegs im Flachland und in den Berghängen Saatgut verloren, so dass – wenn man genauer hinschaute – überall zwischen den Blumen und Bäumen, auch Gräser und Unkraut wuchsen. Gott war nicht sonderlich begeistert darüber – so sagte er zu dem Mann: „Also, ich bin nicht wirklich zufrieden mit Deiner Arbeit – Du musst zurückkehren in die Samsara-Welt und das Unkraut jäten, damit die Blumen richtig wachsen können.“ Der Mann war verzweifelt: „Wie soll ich das alleine schaffen – es ist zu viel für mich“. Das stimmte Gott gnädig und er sagte voller Mitgefühl: „Ihr seid alle meine Kinder und ich liebe Euch – ich gebe Dir daher die Möglichkeit, dass Du es schneller schaffst. Ich kann Dir Tiere zaubern, damit sie Dir beim Unkraut jäten helfen. Aber Du musst mit Deiner Verlobten diskutieren, welches Tier Ihr haben möchtet, um Euch zu helfen.“ Die Frau sagte: „Also, es sollte ein Tier sein, was meine Blumen und das Obst nicht frisst oder zerstört.“ Da blieben nur ein paar Tiere übrig, die diese Bedingungen erfüllten und lediglich Gräser und ähnliches fressen: Ziegen, Kühe und Wasserbüffel. Die Frau meinte: „Nein, diese Tiere sehen aber überhaupt nicht schön aus in meinem Garten.“ Sie haben lange überlegt und Gott kam dann zu dem Schluss, doch den Mann hinunterzuschicken. Als dieser in der Samsara-Welt angekommen war, verzauberte ihn Gott zu einem Wasserbüffel. Denn dieses Tier hat die größtmögliche Geduld und Ausdauer, frisst nur Unkraut und ist so überaus nützlich. Da er so geduldig ist, frisst er und frisst er und ist bis jetzt geblieben.

Der Wasserbüffel ist also in der Samsara-Welt geblieben, aber wir dürfen nicht vergessen, dass er in seinem Herzen ja eigentlich ein Engel ist. Er spürte sehr viel Reue in sich, dass er damals nicht geduldig und fleißig genug gewesen ist. Daher versuchte er diese Qualitäten besonders zu kultivieren und hielt beharrlich durch – allen Widrigkeiten zum Trotz.

Der Wasserbüffel und der Bodhisattva

Gott beobachtete das alles und nach etlichen Jahren sagte er zu dem Wasserbüffel: „Du bist so bemüht und geduldig, zeigst so viel Ausdauer und Beharrlichkeit – ich möchte Dich gerne von Deiner Rolle erlösen und Dich in den Himmel zurückholen. Aber Du musst jemanden in der Samsara-Welt finden, der die gleichen Qualitäten wie Du in sich trägt und Dich dann ablösen kann.“ Der Wasserbüffel(mann) schaut sich also um, aber fand zunächst kein Wesen, welches seine Qualitäten teilt. Irgendwann hatte er dann doch Glück: er traf einen Bodhisattva (bodhi = Erleuchtung oder Erwachen; sattva = Wesen), ein nach höchster Erkenntnis Strebender, der oder die sich für die Erlösung und das Heil aller lebenden Wesen einsetzt. Der Name des Bodhisattvas war Avalokiteshvara, die (häufig weiblich dargestellte) Bodhisattva des umfassenden Mitgefühls und der Barmherzigkeit. Und der Mann fragte sie: „Kannst Du meine Aufgabe übernehmen? Ich sehe, Du bist das erste und einzige Wesen, dem ich seither begegnet bin, der/die meine Qualitäten in sich trägt und meine Aufgaben fortsetzen kann.“ Aus ihrem allumfassenden Mitgefühl heraus stimmte Avalokiteshvara zu und seitdem betrachtet man in Asien den Wasserbüffel als eine Verkörperung des Bodhisattvas des Mitgefühls und der Barmherzigkeit.

2. Februar 2009

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