„Die Ethik des Mitgefühls“ S.H. Dalai Lama

Auszug aus „Das Buch der Menschlichkeit – Eine neue Ethik für unsere Zeit“ 2. Auflage 2002.

„[…]Alle bedeutenden Religionen heben die Wichtigkeit der Entwicklung von Liebe und Mitgefühl hervor. In der philosophischen Tradition des Buddhismus werden diesbezüglich verschiedene Verwirklichungsstufen beschrieben. Auf der ersten Stufe wird unter Mitgefühl weitgehend das Einfühlungsvermögen verstanden, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihr Leid bis zu einem gewissen Grad zu teilen. Doch Buddhisten – und vielleicht auch andere Menschen – glauben, daß sich diese Fähigkeit so weit fortentwickeln lässt, daß unser Mitgefühl nicht nur ohne jeden Aufwand, wie von selbst in Erscheinung treten kann, sondern dass es zugleich bedingungslos ist, keine Unterschiede macht und allumfassend ist. Ein Gefühl der Nähe zu allen anderen Lebewesen entsteht – selbstverständlich einschließlich jener, die uns wehtun –, ein Wesenszug, der in der entsprechenden Literatur mit der Liebe einer Mutter zu ihrem einzigen Kind verglichen wird.

Das große Mitgefühl

Doch diese Gelassenheit, die man anderen gegenüber empfindet, wird nicht als das Ende der Entwicklung betrachtet, sondern eher als Sprungbrett zu einer noch größeren Liebe. Da uns das Einfühlungsvermögen genauso wie die Urteilsfähigkeit angeboren ist, verfügt das Mitgefühl über dieselben Eigenschaften wie das Bewusstsein selbst. Deshalb sind wir in der Lage das Mitgefühl konstant und dauerhaft zu entwickeln. Es handelt sich bei ihm nicht um so etwas wie einen Bodenschatz, der verbraucht werden kann. Und obwohl wir von ihm wie von einer Aktivität sprechen, ist es dennoch nicht einer körperlichen Tätigkeit gleichzusetzen, die wir trainieren können, wie zum Beispiel den Hochsprung, der jedoch bei einer festgelegten Höhe endet. Ganz im Gegenteil: Wenn wir unsere Empfänglichkeit für das Leid anderer steigern, indem wir uns bewusst öffnen, dann – so die Annahmen – können wir unser Mitgefühl allmählich bis zu einer Stufe steigern, auf der uns selbst das geringste Leid anderer derart bewegt, dass wir ein alles übersteigendes Verantwortungsgefühl ihnen gegenüber empfinden. Das veranlasst einen mitfühlenden Menschen, sich ganz und gar dem anderen zu widmen, indem er ihm dabei hilft, sowohl das Leid als auch die Ursache dieses Leids zu überwinden. Im Tibetischen wird diese höchste Stufe nying je chenmo genannt: Das große Mitgefühl.

Jeder will glücklich sein und nicht leiden

Diese Stufe muß man aber nicht erreichen, um ein ethisch stimmiges Leben führen zu können. Ich habe das Große Mitgefühl nicht beschrieben, weil es eine Voraussetzung für ethisches Verhalten ist, sondern weil ich glaube, daß es höchst anspornend sein kann, wenn man die Logik des Mitgefühls bis zum Äußersten durchdenkt. Auch wenn es vielen Lesern unmöglich erscheinen mag: Nach meiner Auffassung ist diese höchste Stufe tatsächlich zu erreichen, wenn auch sicher nur unter größten Anstrengungen. Doch selbst wenn wir uns bemühen, nying je chenmo – das große Mitgefühl – zu erreichen, und nur das Ideal im Auge behalten, wird das allein schon einen enormen Einfluß auf unsere Lebenseinstellung haben. Diese Wirkung beruht auf der schlichten Erkenntnis, daß jeder – genau wie ich auch – glücklich sein und nicht leiden will. Das Idealbild wird uns immer wieder daran erinnern, uns nicht selbstsüchtig und voreingenommen zu verhalten. Es wird uns daran erinnern, daß Dinge, die wir tun, um unser Image aufzubessern, nach wie vor selbstsüchtig sind, auch wenn sie noch so gut zu sein scheinen. Es wird uns auch daran erinnern, daß an unserer Güte nichts Besonderes ist, wenn wir sie Menschen angedeihen lassen, denen wir uns ohnehin verbunden fühlen. Und wir werden deutlicher erkennen, daß wir Gefahr laufen, unsere Verantwortung gegenüber Außenstehenden zu vernachlässigen, wenn wir unser ethisches Verhalten für die Menschen reservieren, die uns nahe stehen. Die Zuneigung, die wir natürlicherweise für unsere Angehörigen und Freunde empfinden, ist keine zuverlässige Grundlage für ethisches Verhalten.

Mitgefühl und gegenseitiger Respekt bildene die solideste Basis für Beziehungen

Und warum nicht? Solange die betreffenden Menschen unsere Erwartungen erfüllen, ist alles in Ordnung. Doch wenn sie das nicht mehr tun, dann kann jemand, den wir als guten Freund betrachten, von einem Tag auf den anderen zu einem Feind werden. Wie wir weiter oben schon sahen, neigen wir dazu, harsch auf all jene zu reagieren, die die Erfüllung unserer Sehnsüchte behindern, selbst wenn es nächste Verwandte sind. Daher bilden Mitgefühl und gegenseitiger Respekt eine viel solidere Basis für Beziehungen zu anderen – und das gilt auch für Liebesbeziehungen. Wenn unsere Liebe zu jemandem sich vorwiegend auf dessen oder deren Anziehungskraft gründet, sei es das Aussehen oder eine andere Äußerlichkeiten, dann dürften sich unsere Gefühle zu diesem Menschen nach einer Weile verflüchtigen. Und wenn er dieses Merkmal, das wir attraktiv fanden, nicht mehr hat oder es uns nicht mehr ausreicht, dann kann sich die Situation schlagartig ändern, obwohl es sich natürlich immer noch um denselben Menschen handelt. Aus diesem Grund sind Beziehungen, die sich alleine auf Attraktivität gründen, so gut wie nie von Dauer. Wenn wir dagegen beginnen, unser Mitgefühl zu perfektionieren, dann wird weder das Erscheinungsbild noch das Auftreten des oder der anderen unsere grundsätzliche Einstellung beeinflussen.

Voreingenommenheit bekämpfen

Denken sie auch daran, dass unsere Gefühle für andere gewöhnlich sehr von deren jeweiligen Lebensumständen abhängen. So wird ein behinderter Mensch bei den meisten Mitgefühl erwecken, während jemand, der reicher, besser ausgebildet oder sozial besser gestellt ist, oft Neid oder Konkurrenzdenken hervorruft. Solche negativen Empfindungen hindern uns daran, das Gemeinsame zwischen uns und allen anderen wahrzunehmen. Wir vergessen dann, dass sie genau wie wir gerne glücklich sein und nicht leiden wollen, gleichgültig wie erfolgreich oder erfolglos oder wie fern oder wie nah sie sein mögen.

Also geht es darum, diese Voreingenommenheit zu bekämpfen. Obwohl es nahe liegend und auch angemessen ist, zunächst echtes Mitgefühl für die uns Nahestehenden zu entwickeln, da unser Verhalten auf sie natürlich viel größere Auswirkungen hat als auf andere und wir ihnen gegenüber eine erheblich größere Verantwortung tragen, sollten wir uns dennoch darüber im klaren sein, daß es letztlich keinen Grund gibt, sie anderen vorzuziehen. Sie gesehen befinden wir uns alle in der Situation eines Arztes, der zehn Patienten mit derselben schweren Krankheit heilen soll: Jeder von ihnen hat dasselbe Anrecht auf Behandlung. Doch der Leser glaube nicht, daß ich hier als Befürworter einer distanzierten Neutralität sprechen will. Die folgende wichtige Aufgabe besteht darin, daß wir damit beginnen, unser Mitgefühl auf alle anderen Menschen auszudehnen und den Grad der Nähe zu ihnen auf einem Niveau zu halten, das dem Gefühl für unsere Nächsten entspricht. Mit anderen Worten: Wir sollten uns in Bezug auf andere um Gerechtigkeit bemühen – eine Grundlange, in die wir die Saat des großen Mitgefühls pflanzen können, die Saat der großen Liebe.

Bedingungslose Liebe überwindet jede Art von Hindernissen

Wenn uns erst einmal der erste Schritt dazu gelingt, mit anderen auf einer solchen Basis umzugehen, dann gründet sich unser Mitgefühl nicht mehr darauf, daß eine Person, unser Mann, unsere Frau, unser Verwandter oder unser Freund ist. Statt dessen können wir allen Menschen gegenüber dieses Gefühl von Nähe entwickeln, weil die schlichte Erkenntnis dahinter steckt, daß jeder Mensch, genau wie ich selbst, glücklich werden und Leid vermeiden will. Das bedeutet, daß wir zu Anderen eine Beziehung auf der Grundlage herstellen, daß wir beide Empfindungen haben. Da das in der Umsetzung ungeheuer schwierig ist, lässt sich auch dieses Ziel als ein Ideal betrachten. Aber was mich selbst betrifft, so empfinde ich dieses Ideal als ungemein anspornend und hilfreich.[…] Die bedingungslose Liebe überwindet jede Art von Hindernissen, und letzten Endes hebt sie jene Wahrnehmung auf, durch die sich meine Interessen von den Interessen anderer Menschen unterscheiden. Aber das Wichtigste, wenn es um die Ethik geht, ist, dass sich dort, wo Nächstenliebe, Zuneigung, Freundlichkeit und Mitgefühl herrschen, das ethische Verhalten ganz von selbst einstellt.[…]“

1. Dezember 2008

2 Kommentare to „Die Ethik des Mitgefühls“ S.H. Dalai Lama

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  2. “Die Ethik des Mitgefühls”, S.H. Dalai Lama « Spiritualität und Ethik on April 14th, 2012
  3. Soviel Leid kann überwunden werden, werden wir uns dessen bewußt! Ich will und werde an mir arbeiten und wünsche mir viele die folgen…

    Holger

  4. Holger Ballhausen on August 2nd, 2013

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