Den Geist verstehen

Der folgende Text wurde auf der Grundlage des gleichnamigen Vortrags, den der Ehrw. Dhammadipa am 13. April 2008 in der Pagode Phat Hue Frankfurt gehalten hat, erstellt.

Gestern haben wir über das Herz gesprochen – heute sprechen wir über den Geist. In der chinesischen und der vietnamesischen Sprache ist es das Gleiche (à das heißt, xin bedeutet sowohl Herz wie auch Geist im Chinesischen). Wenn das Herz geöffnet ist, ist der Geist auch offen und umgekehrt.

In der buddhistischen Tradition ist Geist (mano, citta) definiert als etwas, das an ein Objekt denkt oder ein Objekt wahrnimmt, versteht und (von einem anderen) unterscheidet. Durch den Geist (er)leben wir.

Die Natur des Geistes

Vor etwa zwei Jahren flog ich aus Kathmandu nach Sri Lanka und ich musste in Mumbai umsteigen. Es war sehr spät in der Nacht, morgens gegen 2 Uhr habe ich am Flughafen in der Cafeteria gesessen. Da kam ein junger Mann zu mir und hat mich gefragt: „Ehrwürdiger, was meinen Sie, wer kann uns retten?“ Ich habe überlegt, was ich sagen soll. Er trug ein Kreuz um den Hals und wollte sicherlich hören, nur Jesus oder Gott können uns retten – also wie sollte ich reagieren? Ich habe dann geantwortet: „Der Geist kann uns retten.“ Das hat ihn verwirrt. Er wusste nicht, was das bedeutet, wie der Geist uns retten soll.

Das ist sehr schwer zu verstehen. Aber das Verständnis vom Geist ist eigentlich die Essenz des Buddhismus. Im Christentum und auch in den meisten indischen Religionen glaubt man, dass nur jemand oder etwas, außerhalb von uns selbst existierend – wie Gott oder ein Schöpfer – die Menschheit aus Mitleid retten kann. Im Buddhismus ist das ein bisschen anders. Obwohl es im Mahayana-Buddhismus viel Hilfe von den Bodhisattvas (siehe Anmerkung 1) gibt, wie zum Beispiel Manjushri und Tara. Sie haben ähnliche Funktion wie die Götter im Hinduismus. Dennoch sind sie letztendlich nur Tugenden des Geistes. Wenn man sie sich als etwas Äußeres vorstellt, ist das nicht mehr buddhistisch.

Die Lehre von Buddha besagt, dass wir für unseren Geist selbst verantwortlich sind. Dadurch sind wir auch für die Welt verantwortlich! Denn alles, was wir erfahren können, ist nur durch unseren Geist erfahrbar. Aus buddhistischer Sicht ist der Geist nicht mit dem „Konzept Gott“ in anderen Religionen vergleichbar. Der Geist mano, so wie der Buddha ihn zu Beginn des Dhammapada beschreibt, lenkt unsere Wahrnehmung der Welt und formt damit die Erfahrungen, die wir in der Welt machen (siehe Anmerkung 2). Er ist dabei nicht als eine „Instanz“ außerhalb der fünf Skandhas (siehe unten) zu sehen. Der Geist gehört genauso zu uns wie unser Körper – beide sind unsere Instrumente zur Wahrnehmung und Orientierung in der Welt.

  

Der Buddha hat alles, was wir in der Welt erfahren können in den fünf Aggregaten der Existenz zusammengefasst. Er nannte diese „Kategorien“  fünf Skandhas oder Kandhas.

 1. Körperlichkeit (rupakkhandha),

2. Empfindung (vedanakkhanda),

 3. Wahrnehmung (sannakkhandha),

4. willensbedingte Gestaltungskräfte (sànkharakkkahandha) und

5. koordinierendes geistiges Bewusstsein (vinnanakkandha).

In den Schriften wird gesagt, unser Geist regiert die Welt und „fasst sie zusammen“.  Alle Phänomene stehen unter der Schirmherrschaft unseres Geistes. Was heißt das? Die Qualität und die Erfahrung der Phänomene hängt davon ab, wie wir sie wahrnehmen und wie wir sie voneinander unterscheiden.

Damit wir überhaupt etwas wahrnehmen können, muss unser Geist mit den Objekten Kontakt aufnehmen (Pali: phassa). Die Objekte der Wahrnehmung, Geistobjekte, bezeichnet man in Pali als Dhamma.

Um Klarblick (vgl. hierzu die Vipassana-Methode der Meditation) entwickeln zu können, muss unser Geist bei den Wahrnehmungsprozessen imstande sein, „fest auf den Objekten sitzen zu bleiben“. Wenn er wie ein Affe im Baum hin und her springt, in Pali würde man sagen „wackelt“, führt das zu Verwirrung. Unruhe im Geist ist daher zu vermeiden.

Die Erfahrung der Welt aus buddhistischer Sicht

Der Buddha fragt nicht, woher die Welt kommt, er fragt woher Leiden kommt. So lange wir in Unwissenheit über die Dynamik unserer Leiderfahrung verharren, können wir das Wesen der Welt nicht verstehen. Denn das individuelle Erleben von Leid und Unzufriedenheit färbt unsere subjektive  Wahrnehmung von der Welt.

Buddha sagt, dass die Welt, wie wir sie erfahren, aus einer Vielfalt von Phänomenen, jeweils bestehend aus  den fünf Skandha (siehe oben), zusammengesetzt ist. Diese Phänomene sind durch vielschichtige Bedingungen miteinander verbunden (à Bedingtes Entstehen, siehe Anmerkung 3). Sie entstehen durch eine Reihe von Ursachen. Es ist daher aus buddhistischer Sicht nicht möglich, dass es nur eine Ursache, wie zum Beispiel einen göttlichen Schöpfer, für die Welt gibt. Viele Bedingungen und Faktoren zusammen führen zur Existenz und Erfahrung der Welt wie wir sie tagtäglich erleben.

Befreiung durch Wissen

Die Verantwortlichkeit für die Welt und für das Leiden liegt völlig bei uns selbst. Dies unterscheidet den Buddhismus von theistischen Religionen. Niemand kann uns retten – nur wir selbst.  Leiden, welches wir erfahren, entsteht durch eine innere Unzufriedenheit, die wir aufgrund der Diskrepanz zwischen unseren Sehnsüchten und der Realität selbst erzeugt haben. Es gibt Leute, die glauben, dass Buddhismus sehr pessimistisch ist, weil er nur von Leiden in der Welt spricht. Aber das ist ein Missverständnis. Denn wenn Nichtwissen die Ursache für das Leiden in dieser Welt ist, dann ist die buddhistische Philosophie sehr optimistisch, weil wir dann durch Wissen Leiden beseitigen können. Nicht ein Gott, sondern Wissen kann Leiden beseitigen. Wissen entsteht durch die richtige Einschätzung unserer Wahrnehmung des Geistes. Deswegen kann man sagen, der Geist kann uns retten.

Voraussetzung dafür ist ein in sich ruhender und klarer Geist. Dann können wir die Entstehung des Leids, dessen Vergänglichkeit und auch den Weg aus dem Kreislauf des Leids verstehen (siehe Anmerkung 4). Auf diese Weise haben wir dann das Rätsel der Welt gelöst und kommen unserer eigenen Befreiung einen großen Schritt näher.

 Anmerkungen:

  1. Bodhisattva: „Erleuchtungswesen“, ein zur zukünftigen Buddhaschaft bestimmtes Wesen. Er Bodhisattva wird erst dann in die eigene, vollständige Befreiung (Nirvana) eintreten, wenn alle fühlenden Wesen von ihrem Leid erlöst sind.
  2. Dhammapada 1.1Alle Dinge entstehen im Geist, sind unseres mächtigen Geistes Schöpfung.
  3. Die zwölfgliedrige Kette des bedingten Entstehens lautet (in Kurzform):

1.       Nichtwissen (avijja)

2.       Gestaltungen (sankhara)

3.       Bewusstsein (vinnana)

4.       Geist und Materie (nama rupa)

5.       Erfahrung durch die sechs Sinne (salayatana)

6.       Kontakt (phassa)

7.       Empfindung (vedana)

8.       Verlangen/Durst (tanha)

9.       Ergreifen und Anhaften (upadana)

10.   Werdeprozess (bhava)

11.   Wiedergeburt (jati)

12.   Altern und Sterben (jara-marana)

  1. Vergleiche hierzu die von Buddha nach seiner Erleuchtung gelehrten „Vier edlen Wahrheiten“:

1.       Dukkha – Das Leben im Daseinskreislauf ist leidvoll.

2.       Samudaya – Die Ursachen des Leidens sind Begehren, Abneigung und Unwissenheit.

3.       Nirodha – Durch das Erlöschen der Ursachen erlischt das Leiden.

4.       Magga – Zum Erlöschen des Begehrens (und damit des Leidens) führt der „Edle Achtfache Pfad“ (à reche Sicht, rechte Entschlossenheit, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechter Lebensunterhalt, rechtes Bemühen, rechte Aufmerksamkeit, rechte Konzentration).

22. Juli 2008

1 Kommentar to Den Geist verstehen

  1. Das Befolgen des achtfachen Pfades setzt eigentlich schon voraus, dass ich ein Heiliger bin. Wie lange wird es wohl dauern bis ein Mensch alles Verlangen aufgegeben hat. Äonen ? Erschreckend !

  2. Jochen on April 8th, 2012

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