Fragen und Antworten – Session mit dem Ehrw. Thich Nhat Hanh
im Rahmen des Sommer-Retreats, Plum Village, 12.07.2008
Übersetzung aus dem Englischen
1. Frage: (Kind fragt) „Warum habe ich mir ausgerechnet am ersten Tag meiner Ferien den Arm gebrochen?“
TNH: „Das ist eine sehr schwierige Frage! Ich denke, Deine Frage hat etwas mit Achtsamkeit zu tun: mit Deiner eigenen Achtsamkeit und der Deiner Umgebung.
Du kannst jede Menge aus dem lernen, was passiert ist. Denn wenn Du es verstehst, aus Deinem Leid zu lernen, kann sich dieses Ereignis am Ende als sehr nützlich für Dich erweisen. Wenn Du achtsamer wirst und lernst, den momentanen Zustand Deines linken Arms anzunehmen, wirst Du dann später wenn Dein Arm wieder gesund ist, viel glücklicher sein als zuvor. Es ist wie mit Zahnweh: bevor die Zahnschmerzen angefangen haben, warst Du vielleicht nicht gerade glücklich. Aber als die Zahnschmerzen dann endlich vorbei waren, warst Du glücklicher als je zuvor. Das Leben ist manchmal sehr schön und manchmal läuft es nicht so gut. Sorge Dich nicht!“
2. Frage: „Wenn jemand sich dazu entschließt, Mönch oder Nonne zu werden, muss er oder sie dann sein Leben „opfern“?
TNH: „ Du brauchst nicht Dein Leben zu opfern. Du brauchst überhaupt gar nichts zu opfern. Bevor Du Mönch wirst, hast Du die Gelegenheit andere Mönche zu treffen und hast gesehen wie sie leben. Mönch zu werden, bedeutet das eigene Leben zu transformieren: es bringt Freude und Frieden für Dich und die Menschen in Deiner Umgebung. Ganz allgemein verbessert es die Lebensqualität – das hat nichts mit dem Opfern des eigenen Lebens zu tun. Hinter Reichtum, Ruhm, Einfluss und Sex hinter her zu jagen bringt viel Leid mit sich – so lernt der, der Mönch werden will, sich von diesen Dingen fernzuhalten. Er strebt nach mehr Frieden, Glück und Leichtigkeit im Herzen. Dies alles ist eine wichtige Grundlage, um wirkliches Glück zu erfahren. Du hörst also nicht auf, das Leben zu genießen, wenn Du Mönch wirst und musst auch nicht Dein Leben opfern – das Gegenteil ist der Fall!“
3. Frage: „Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie in Ihrem Leben bisher erreicht haben oder gibt es da noch etwas, was Sie erreichen möchten, bevor sie gehen?“
TNH: „Zu aller erst: ich habe nicht vor zu gehen – in welcher Form auch immer (Publikum lacht). Wenn ich mich nicht in dieser Form manifestiere, dann tue ich das eben in einer anderen Form. Ich versuche, für eine sehr lange Zeit unter den Lebendigen bleiben – friedlich und achtsam – unabhängig von der Manifestationsform.
Mit Achtsamkeit kann ich viel tiefgründiger leben und ich bin imstande, mich selbst zu heilen und zu nähren. Gleiches gilt für die Menschen und anderen Wesen in meiner Umgebung. Manche Menschen streben nach Glück in der Zukunft – ich bevorzuge es, das Glück im Hier und Jetzt zu erfahren. Achtsames Atmen und meditieren unterstützen dies. Sie ermöglichen mir mehr Glück und Freude.
Ich habe das Gefühl von Erfüllung und innerer Zufriedenheit, wann immer ich Leiden vermindern kann. Und dies kann ich hier in diesem Augenblick tun – ich brauche nicht auf morgen zu warten!“
4. Frage: „Ich bin 10 Jahre alt und ich möchte gerne wissen, warum mein Vater dazu tendiert, immer so wütend zu werden. Wenn ich dann seine Nähe suche, wird er noch wütender. Ich weiß nicht, was ich tun kann!“
TNH: „Ich bin mir sicher, Du hast die praktische Übung „Wie man zur Blume wird“ bereits gelernt? Einatmen und ausatmen und sich frisch und lebendig fühlen – wie eine blühende Blume. Das ist eine Übung, die von jedem gemacht werden kann – egal ob jung oder alt. Es ist eine sehr sichere Übung. Also, wenn Dein Vater wütend wird, dann versuche, zu dieser Blume zu werden. Das wird Dir selbst und Deinem Vater helfen! Es ist immer wieder schön, eine Blume zu sehen. Und wenn er zu wütend wird, wenn Du seine Nähe suchst – dann lass ihn lieber in Ruhe! Das Beste, was Du in diesem Moment tun kannst, ist zur Blume zu werden. Ein anderer Vorschlag: wenn er mal nicht wütend ist, dann weißt Du, das ist jetzt Deine Gelegenheit. Dann gehst Du zu ihm und sagst etwas wie „Vater, heute Morgen warst Du echt wütend und ich habe versucht, Dir zu helfen, aber Du warst nicht ansprechbar und so habe ich versucht, Dir zu helfen, indem ich die Übung „Zu einer Blume werden“ praktiziert habe. Ich habe versucht, Dich auf diese Weise zu unterstützen! Wann immer Du in der nächsten Zeit wütend wirst, bitte gib mir etwas Zeit, diese Übung für Dich zu machen. Sie wird uns beiden helfen.“ Wenn Du so vorgehst, wird er das nicht als Provokation empfinden und Eure Beziehung wird sich verbessern.“
5. Frage: „Was ist der wichtigste Punkt in Bezug auf das Mönch- oder Nonnen-sein?“
TNH: „Mein erster Gedanke ist, dass eigentlich alles wichtig ist. Wenn Du Dir das Leben eines Mönchs oder einer Nonne anschaust, kannst Du sehen, dass sie in jedem Augenblick versuchen, achtsam zu sein – egal was sie gerade tun: beim Sitzen, Gehen, dem Studieren der Sutras oder beim Anderen helfen. Alles, was mit Achtsamkeit und Konzentration praktiziert wird, ist gleichermaßen wichtig. Wenn Du Deine Aufmerksamkeit auf jede Deiner Handlungen richtest, wird jede Handlung wichtig, sogar das Reinigen der Toiletten. Du solltest alles was Du tust, zu etwas ganz Wichtigem machen. Alles, was Du tust ist gleich wichtig und zwar nur deshalb, weil Du es mit Achtsamkeit praktizierst.“
6. Frage: „Glauben Sie an die Reinkarnation?“
TNH: „Ich glaube an die Kontinuität. Ich habe schon über die Wolke gesprochen: eine Wolke kann niemals sterben. Sterben würde bedeuten, etwas wird plötzlich zu nichts. Eine Wolke kann aber lediglich zu Regen, zu Schnee, zu Eis oder zu Nebel werden. Aber eine Wolke kann nicht zu nichts werden! Das gleiche gilt für menschliche Wesen: wie eine Wolke, kann man in vielen verschiedenen Formen fortbestehen, aber man kann nicht zu nichts werden. Wenn Du also das Fortbestehen als Reinkarnation betrachtest, ja, dann glaube ich an die Reinkarnation. Das bedeutet aber nicht, dass es da einen Geist gibt, der unabhängig vom Körper existiert. Also, wenn der Körper sich auflöst, tritt er aus und sucht einen anderen Körper für die Reinkarnation. Das hat nichts mit dem Fortbestehen wie ich es verstehe zu tun. In der Tat – dies ist ein sehr interessantes Feld für weitere Überlegungen und Forschungen!“
7. Frage: „Wenn wir uns in einer leidvollen Situation befinden, was sollen wir tun? Die Situation akzeptieren wie sie ist (also nichts tun) oder die Situation verändern (also etwas tun)?“
TNH: „Es gibt zwei unterschiedliche Vorgehensweisen, die von Buddha empfohlen wurden.
1. die Natur des Leids erkennen
Du bist achtsam und Achtsamkeit hilft Dir dabei, zu erkennen, dass etwas in einem gegebenen Moment leidvoll ist. Aber jetzt (entschließe ich mich), meinem Leid ein Lächeln zu schenken. Es ist, als ob Du das Leid in Deinem Arm hältst und versuchst, von ihm zu lernen. Wir können immer von unserem Leid lernen. In der Tat ist es so, dass diejenigen, die nie wirklich Leid erfahren haben, auch keine Chance haben, echtes Mitgefühl zu entwickeln und zu verstehen. Wir lernen Mitgefühl zu verstehen, weil wir selbst Leid erfahren haben. Das wäre also die erste Möglichkeit: Du erkennst Dein Leidphänomen. Du kannst es für eine Weile festhalten, es verstehen lernen und dann Mitgefühl für Dein eigenes Leid entwickeln.
2. Das Leid – die Situation – verändern
Stell Dir vor, Du besitzt eine Diskothek mit ganz vielen Cds – wenn Du eine CD, die gerade gespielt wird, nicht magst, legst Du einfach eine andere ein, die Du lieber hörst. In Deinem Kopf hast Du jede Menge CDs und Du kannst sie austauschen, in dem Du Achtsamkeit auf den Atem übst. Du kannst so die mentalen Formationen verändern. Du kannst sogar Deine Mutter und Deinen Bruder um Unterstützung bei Deinen Bemühungen bitten, solltest Du es alleine nicht schaffen. Bitte sie, dass sie Deine Gedanken umlenken helfen, auf etwas was Freude bringt und glücklich macht. Das wird Dir helfen, Freude und Glück zu entwickeln. Wenn Du diese Gefühle dann weiter kultivieren kannst, ist das ein Weg, um die CD auszutauschen. Mit anderen Worten: Du wirst so die geistigen Formationen verändern können. Du verfügst über viele verschiedene geistige Formationen – das Leid in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist nur ein kleiner Teil von den Möglichkeiten, die Du hast. Das bedeutet, mit der Hilfe und Unterstützung von anderen kannst Du lernen, Dein Leid zu transformieren und später schaffst Du das dann auch selbst – ohne die Hilfe von außen.“
8. Frage: „Christentum und Buddhismus sind sich in Bezug auf die jeweiligen Kernaussagen sehr ähnlich – warum aber vertreten sie dann zum Teil so unterschiedliche Ansichten?“
TNH: „ Diese Frage ist eine große Illusion. Sogar innerhalb des Christentums erklären die Leute die gleichen Dinge auf sehr unterschiedliche Weise. Dasselbe gilt natürlich auch für den Buddhismus. Es ist somit logisch, dass Buddhismus und Christentum die Dinge unterschiedlich erklären. Aber auch wenn Menschen dies tun, sollten sie die Kernaussage verstehen. Jede Ausführung hat ihre Kernaussage und diese sollte verstanden werden. Wir sollten alle diese Kernaussagen zusammen tragen, um daraus so etwas wie eine „kollektive Einsichtsmöglichkeit“ zu schaffen – mit den Mitteln der Synthese. Die Aussagen, die sich zunächst vielleicht widersprechen, ergänzen sich vielleicht, wenn man sie genauer anschaut – dies zu erkennen, würde uns auf eine höhere Ebene des Verständnisses bringen. Wenn Du wirklich in der Tiefe zuhörst und tief darüber reflektierst, erkennst Du die Essenz der Dinge und kannst zu einer höheren Ebene von Verständnis, Weisheit und Einsicht gelangen.“
9. Frage: „Ich habe eine Langzeitbeziehung und nun ist zwischen meinem Partner und mir etwas vorgefallen, so dass ich ihm nicht mehr vertrauen kann. Die Sache ist, ich will ihn (noch) nicht verlassen und weiß daher nicht, was ich tun kann.“
TNH: „Wenn es sich um wahre Liebe handelt, dann gibt es da Respekt und Vertrauen. Wenn Du also dieser Person nicht mehr vertraust und sie nicht mehr respektieren kannst, dann bedeutet das, dass da keine wahre Liebe mehr ist. Wenn Du aber immer noch an dem Partner hängst, müssen wir uns anschauen, ob dies wirklich aufgrund von Liebe oder aus einem anderen Grund so ist. Wahre Liebe kann jede Menge Zufriedenheit und Glück bescheren. Aber was ist wahre Liebe? Sie kann auch jede Menge Leid verursachen! Du musst Dir wirklich anschauen, ob Du ihn noch liebst oder nicht. Ich denke, Du brauchst dafür etwas Zeit, um wirklich in der Tiefe hinzuschauen. Warum hast Du mir dieses oder jenes angetan? Du solltest nachfragen. Vielleicht magst Du einen langen Brief schreiben, um Deine Situation und Deine Gefühle zu erklären. Das gibt dem Partner auch genug Zeit, um für sich selbst darüber zu reflektieren. Vielleicht verändert sich die Person und ist nicht mehr so wie vorher. Das kann zutreffen oder auch nicht. Beschuldige ihn nicht – wenn Du ihn immer noch ein bisschen magst, gib ihm nochmal eine Chance. Frage nach einer Erklärung und denke in der Tiefe über alles nach, um die Wurzel und die wirkliche Ursache für die begangene Handlung zu erkennen.“
10. Frage: „Meine Eltern vertrauen mir nicht mehr – was kann ich tun?“
TNH: „Ich habe immer wieder viele junge Leute in meinen Retreats, die ähnliche Probleme haben. In solchen Fällen ist es sehr gut, wenn die Eltern ebenfalls am Retreat teilnehmen. Dann kann der ganzen Familie bei den Transformationsprozessen geholfen werden. Manchmal ist die Kommunikation nach so einem Retreat wieder möglich. Denn Du erkennst dann das Leid Deiner Mutter und Deines Vaters. Wenn sie aber das Dharma nicht kennen und auch nicht praktizieren, dann wird es schwierig. Aber während eines Retreats kann man diese Dinge lernen.
Hier ein Beispiel einer Tochter, die Probleme mit ihren Eltern hatte. Mit einem gewissen Maß an Verständnis kam sie zurück nach Hause und konnte zu ihren Eltern sagen: „Bitte, Mutter und Vater: erzählt mir über Eure Schwierigkeiten und Euer Leid. Ich möchte es wirklich verstehen!“ Das ist der richtige Ansatz! Mit Hilfe der Praxis des tiefen Zuhörens wirst Du sie verstehen können und nach einer Stunde oder so merkst Du den Unterschied. Wenn Du wirklich in der Tiefe zuhörst, wird das ihre Herzen öffnen. Bitterkeit, Beschuldigungen und Hass werden weniger werden. Wenn Du nicht weißt, wie man achtsam atmet, kann es sein, dass die Situation aus dem Ruder läuft. Dann wirst Du in negative Emotionen kommen und Dich darin verlieren. Deshalb solltest Du lernen, dem Leid der anderen zuzuhören. Du solltest auch dann noch zuhören, wenn die andere Person Dir Dinge erzählt, die nicht korrekt sind. Die anderen Menschen haben die Möglichkeit verdient, über ihr Leid zu sprechen. Du wirst sie daher nicht unterbrechen – meine empfohlene Praxis lautet: einfach nur in der Tiefe zuhören! Vielleicht hast Du später die Gelegenheit, ihre Wahrnehmung und ihre Informationen zu korrigieren. Aber für diesen Moment gilt: nur zuhören. Und Du solltest dies mit Deinem ganzen Herzen tun. Diese Art des tiefgründigen Zuhörens wirkt sehr heilsam. Es kann eine Situation komplett verändern. Manche Menschen haben mit dieser Technik ihre Beziehungen und Kommunikationsmuster zum Guten wenden können.“
11. Frage: „Wie kann man mit intensiven Emotionen umgehen? Was sind Gefühle eigentlich?“
TNH: „Gefühle – es gibt da einen Fluss von Gefühlen, der in uns fließt. Wenn Du diesen Strom betrachtest, siehst Du angenehme, neutrale und unangenehme, schmerzhafte Gefühle. Wenn wir noch genauer hinschauen, sehen wir, dass sie entstehen, einen Moment bleiben und dann wieder vergehen. Wir tragen jede Menge neutraler Gefühle in uns. In der Tat ist es so, dass sie das meiste Wasser in unserem Fluss bereitstellen. Diese Gefühle sind weder angenehm noch unangenehm oder schmerzhaft. In unserer Praxis lernen wir, diese neutralen Gefühle in angenehme zu transformieren. Wenn Du nicht weißt, wie man Achtsamkeit praktiziert, dann akzeptierst Du einfach was gerade da ist und nimmst es an.
Wir wissen, dass das Leben ein Wunder ist – in uns und um uns herum. Wenn wir die Achtsamkeit wirklich ernsthaft praktizieren, dann werden wir all diese Wunder in uns selbst und in unserer Umgebung wahrnehmen. So kann dann ein neutrales Gefühl in ein angenehmes und wunderbares transformiert werden. Wenn Du Zahnweh hast, hast Du gewöhnlich schmerzhafte Empfindungen. Wenn Du keine Zahnschmerzen hast, beschreibst Du Deine Gefühle als neutral, aber eigentlich sind es angenehme Gefühle. Keine Zahnschmerzen zu haben, ist doch eine wunderbares Sache! Ja, ein Wohlgefühl sollte nun wirklich nicht als neutral empfunden werden, sondern als etwas Wunderbares!“
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