Die Leerheit als Quelle der unendlichen Möglichkeiten…

ErleuchtungKaum ein Begriff der Buddhistischen Philosophie wird so häufig missverstanden wie der der Leerheit. Insbesondere im Westen haben viele Menschen Schwierigkeiten, Zugang zu diesem so zentralen Punkt des Buddhismus zu bekommen. Oft wird „die Dinge sind leer” mit „die Dinge sind nicht vorhanden” gleichgesetzt. Dem ist aber nicht so.

Vom leer sein zur Leerheit …

Zu Beginn des Buddhismus, also zu Buddhas Lebzeiten, wird die Leerheit in den meisten Lehrreden mit Hilfe des Adjektivs „leer” dargestellt: Die Erscheinungen der Welt werden in ihrer Natur als leer beschrieben. „Leer ist die Welt…, leer von Ich oder zum Ich Gehörigen” (SN 35.85). Grundlage der Philosophie der Leerheit ist die Lehre des Nicht-Selbst (Pali: anatta). In der späteren Entwicklung wurde der Leerheits-Begriff, vor allem auf der Grundlage des Abhidhamma, erweitert.

Beginnend mit der Prajnaparamita-Epoche (etwa 1. Jh.v.Chr.) wurde das Verständnis der Leerheit weiter verallgemeinert. Jede innere und äußere Erscheinung ist demnach leer von einem Selbst und Eigennatur (svabhava). Nichts entsteht und vergeht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund des Zusammentreffens von die jeweilige Erscheinung ermöglichenden Faktoren oder Bedingungen. Auch unser Ich unterliegt diesen Gesetzmäßigkeiten und kann daher nicht dauerhafter und substantieller Natur sein. Alles ist aus verschiedenen, sich ständig neu zusammenfindenden Komponenten zusammengesetzt und daher der Vergänglichkeit und Veränderung unterworfen.

Nehmen wir das Beispiel einer Tasse Tee: In der Tasse befindet sich nach buddhistischem Verständnis kein Tee, sondern lediglich die Kombination von den Komponenten Wasser, Wärme (= Feuer) und pflanzliche Bestandteile (= Erde) in veränderlichen Mengenverhältnissen. Aufgrund unserer abgespeicherten Erfahrungen und darüber gestülpten Konzepte, fassen wir die Einzelteile jedoch verallgemeinernd als Tee zusammen und verbinden damit „substantielle Vorstellungen”. Das Konzept Tee hat aber keinerlei Eigennatur und ist in sich substanzlos.

Da alles in sich leer ist, kann es auch keine Unterschiede mehr zwischen den einzelnen Objekten geben. In der Leerheit ist jegliche Dualität aufgehoben. Aus dem adjektivischen „leer” wurde die substantivische „Leerheit” – sie wurde nun als ein anzustrebender Zustand beschrieben und häufig als „absoluter” Gegenpol zu unserer „relativen”, samsarischen Welt gesehen.

Sobald wir jedoch an einem Zustand oder Konzept festhalten, rufen wir damit gemäß dem Gesetz der Dualität, den entsprechenden Gegenpol auf den Plan. Da ein Ziel der Leerheit aber die Auflösung genau dieser Dualität ist, darf man sie nicht als Zustand oder Konzept missverstehen und daran anhaften. Buddhistische Gelehrte wie Vasubandhu und Nagarjuna haben dieses Problem erkannt und in ihren Schriften entsprechend darauf hingewiesen. So schrieb Nagarjuna, dass man mit der Annahme der Substanzlosigkeit automatisch die Annahme der Nicht-Substanzlosigkeit nährt – beide können nicht der letztendlichen Realität entsprechen, da sie die Dualität aufrechterhalten.

Eine Buddhastatue z.B. besteht zwar aus Material wie Ton oder Metall, aber sie enthält keine „Buddha-Substanz” – deshalb gibt es viele Zengeschichten, in denen Statuen demonstrativ zerstört werden. Dann aber haftet man an dem Nicht-Substanzlosen, weil man der Überzeugung ist, dass alle Buddhastatuen in sich keine Substanz haben und dadurch wiederum den dualistischen Gegenpol erzeugt. Es nutzt folglich nichts, das Objekt, auf welches sich eine Annahme bezieht, zu zerstören, sondern man muss die Anhaftung an die Annahme selbst auflösen, um die Leerheit in sich erfahren zu können.

Die Realität liegt zwischen den Dingen

Es gibt weder Substanz noch Nicht-Substanz – die äußeren und inneren Erscheinungen bestehen lediglich aus Wechselwirkungen von Bedingungen. Geben wir diesen zu viel Wichtigkeit und Aufmerksamkeit, d.h. haften wir an den Dingen an, erzeugen wir die Illusion der Substanzhaftigkeit und nehmen die Phänomene selbst als vermeintliche Realität wahr.

Eigentlich geht es aber nur darum, die Dynamik von Ursache und Wirkung und damit die Wechselwirkungen zwischen den Dingen zu erkennen und zu verstehen. Aus dieser Klarheit heraus können wir uns dann immer noch für oder gegen unser Handeln auf körperlicher, geistiger und verbaler Ebene entscheiden. Sobald wir durchschaut haben, dass unser Wutanfall bei unserem Gegenüber ebenfalls Zorn hervorruft und das Ganze unserem eigentlichen Bedürfnis nach Nähe eher nicht dienlich ist, sind wir bereit, unser Verhalten zu verändern und damit auch die Wechselwirkung in der Beziehung. Wir erzeugen so eine neue (andere) Realität.

Was also bedeutet Leerheit wirklich?

Leerheit bedeutet in erster Linie das Loslassen von jeglichen Annahmen und daraus resultierend Unabhängigkeit und geistige Freiheit. So lange wir an unseren Ansichten und Überzeugungen als imaginäre Realität festhalten, sind wir in unserer eigenen, gefärbten Wahrnehmung gefangen: Wir betrachten die Welt durch unsere subjektiven Brillengläser. Die Leerheit aber ist frei von Subjektivität und damit frei von Dualität – in ihr können sich alle Möglichkeiten gleichwertig entfalten. Eine Begleiterscheinung der Leerheit ist daher die Offenheit: Dadurch, dass allen Erscheinungen eine gleiche Gültigkeit, also Existenzberechtigung zukommt, können wir ihnen mit Offenheit begegnen.

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25. Februar 2010

2 Kommentare to Die Leerheit als Quelle der unendlichen Möglichkeiten…

  1. Ich finde die Vokabel “leer” nicht ganz passend.

    Wenn ich mir nur die Erklärung ansehe finde ich “neutral” besser, bzw. die Reaktion oder Einstellung sollte “unvoreingenommen” sein.

    (Das Paradoxon mit den zerstörten Buddha-Statuen finde ich sehr amüsant :))

  2. Sebastian on November 20th, 2011
  3. Geht es bei der Leerheit nur um die Leere einer vermeintlich erfassten Substanz (oder Form) oder schliesst die Leerheit auch den Geist (oder Nicht-Geist) selbst mit ein? Und dann – was ist das, was die Form erfassen könnte?

    Liebe Grüsse und Dank für die Erläuterungen

    Mario

  4. Mario on Januar 6th, 2012

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