Wer wir sind – Impulse jenseits von Konfession und Dualität

Unsere Annahmen und Konzepte, mit welchen wir die Welt betrachten und kategorisieren, begrenzen unsere Wahrnehmung und damit unser tägliches Erleben. Je nachdem, aus welchem kulturellen und/oder spirituellen Umfeld wir stammen, laufen wir mit einem entsprechend voreingestellten Tunnelblick durch unser Leben. Dabei sind wir häufig auf das Außen fokussiert. Sei es, dass wir die Verantwortung für unser Leid oder Wohlbefinden an unser Umfeld abgeben, oder aber alles tun, um den (vermeintlichen) Erwartungen unserer Mitwelt zu entsprechen: „Ich muss unbedingt noch 10 Kilo abnehmen, dann wird mein Partner bestimmt bei mir bleiben” und „Ja, wenn meine Tochter besser in der Schule wäre, muss ich nicht ständig Stress haben!”

Doch was ist eigentlich mit uns selbst? Wo bleiben wir und wer oder was sind wir?

Nicht nur im Buddhismus, sondern in allen Religionen und auch Philosophien der Welt wird die Frage nach dem „wer bin ich” gestellt. Besonders in Zeiten persönlicher Krisen und tief greifender Veränderungen, stellen wir uns Fragen dieser Art. Oft betrachten wir uns dabei nicht isoliert, sondern suchen auch nach einem Schöpfer, einer übergeordneten Macht, einer kosmischen Energie oder im Buddhismus nach der Leerheit. Dabei gibt es zwischen den einzelnen spirituellen Ansätzen zwar große Unterschiede hinsichtlich der Terminologie – schaut man aber hinter die einzelnen Begriffe wird deutlich, dass die Ideen oder das Grundverständnis über die Natur des Menschen und des Kosmos einander sehr ähneln.

Überwinden wir unseren Geist begrenzende Vorurteile und studieren wir z.B. als Buddhisten die Bibel, werden wir dort auch für uns fruchtbare Impulse finden. Begriffe wie Selbst, Seele oder Gott, die im Traditionellen Buddhismus oft verneint werden, können dann in einem anderen Licht betrachtet werden. Die offene Betrachtungsweise erweitert lediglich den eigenen Horizont und vertieft den Einblick und das Verständnis über die Erscheinungen der Welt.

Je offener unser Geist für die Vielfalt der Möglichkeiten ist, umso mehr sind wir bereit, die Leerheit, über das lediglich intellektuelle Verstehen hinaus, zu erfahren.
Wer oder was sind wir?

Um diese Frage beantworten zu können, sollten wir vor allem drei Aspekte, die unser Denken und Handeln bestimmen, unterscheiden lernen: Das äußere Ich (Selbstbild), das innere Ich (Seele, Psyche, Geist) und das Selbst (Leerheit, Gott, Kosmos, Buddhanatur).

Selbst_Ich_InneresIch

1. Das äußere Ich – (Selbst- und Wunschbilder)

Das äußere Ich enthält die Vorstellungen darüber, wie wir uns der Außenwelt präsentieren möchten, aber auch Wunschbilder, die wir sinnlos verfolgen, z.B. „ich bin stark.“ Wir wollen stark sein für jemand anders – nicht für uns selbst. Typische Bedürfnisse des äußeren Ichs sind daher Anerkennung, Wertschätzung und Akzeptanz. Wenn wir im Alltag miteinander kommunizieren, tun wir dies in der Regel über unser äußeres Ich. Abhängig von der Rolle, die wir in einem gegebenen Augenblick erfüllen möchten, verändert sich das jeweilige Selbstbild. Wenn z.B. eine Frau, während sie ihr Kind in den Kindergarten bringt, die Rolle einer guten Mutter erfüllen möchte, wird sie ein „Gute-Mutter-Selbstbild“ mit der Botschaft „ich bin fürsorglich” benutzen. Geht sie danach zu ihrem Arbeitsplatz, wird das Selbstbild eher von Qualitäten wie z.B. Stärke und Ehrgeiz bestimmt sein. Dies bedeutet, dass wir nicht nur ein Selbstbild in uns tragen, sondern unzählige. In der inneren Arbeit geht es darum, die von uns bevorzugten Selbstbilder und die Situationen, in welchen wir sie vorzugsweise einsetzen, zu identifizieren. Auf diese Weise lernen wir die Funktionsweise unseres Ichs verstehen und werden dadurch offener für die zwei weiteren Aspekte.

2. Das innere Ich – (Psyche, Geist, Bewusstsein, Seele)

Die Bedürfnisse des inneren Ichs sind Geborgenheit, Frieden, Liebe und Harmonie. Oft setzen wir die „innere Stimme” unseres inneren Ichs mit dem Selbst gleich. Die innere Stimme jedoch ist lediglich die Widerspiegelung unseres äußeren Ichs, der so genannte duale Gegenpol. Das innere Ich ist die Verbindung nach Innen, über das äußere Ich verbinden wir uns mit dem Außen. Jedesmal wenn wir mit der Außenwelt in Wechselwirkung treten, erzeugt dies auch eine innere Reaktion, die sich z.B. über Gefühle und Emotionen ausdrückt. Während wir nach außen demonstrieren „ich bin stark und mich wirft nichts um”, äußert das innere Ich oft das Bedürfnis, einfach nur geliebt werden zu wollen. Das innere Ich bzw. dessen Bedürfnisse entwickeln wir für uns selbst, nicht für jemand anders. Das äußere Ich ist das Reich der Annahmen und Konzepte – das innere Ich beherbergt den Ozean der Gefühle und Emotionen, welche die vielfältigen Reaktionen auf die im äußeren Ich angelegten Annahmen sind. Das bedeutet auch, dass im inneren Ich alle Verletzungen, Ängste und schmerzhaften Erfahrungen abgelegt sind.

3. Das Selbst – (Leerheit, Buddhanatur, Kosmos, Gott)

Das Selbst ist immer da – es wird weder geboren, noch stirbt es. Es ist ein Zustand von unendlicher Weite, Intersein oder eins sein mit Allem. Hier sind Konzepte und Gefühle keine Hindernisse mehr, da es dem Selbst möglich ist, die Dinge direkt, ohne jegliche subjektive Filter oder Verzerrung, wahrzunehmen.
Es bietet Raum für uns selbst, wir müssen dafür nichts tun und nirgends hingehen. Das Selbst trägt unendliche Möglichkeiten in sich und ist allgegenwärtig. Aber im Alltag haben wir häufig den Zugang dazu verloren, weil wir zu sehr auf unser Ich fokussiert sind. Dadurch, dass wir die Spielereien unseres Ichs viel zu ernst nehmen und aus unserer subjektiven Wahrnehmung heraus zur Realität machen, finden wir die Tür zum Selbst nicht. Der Schlüssel liegt in der Gelassenheit und Ruhe, z.B. mit Hilfe der regelmäßigen Meditation. Wenn der Geist ruhig ist und wir der wenigen noch aktiven geistigen Faktoren gewahr sind, haben wir die Chance, einen Funken des Selbsts zu erhaschen.

Das Ego steht in Beziehung mit allen drei Aspekten – es liefert uns das Gefühl der Existenz. Je nach in einem gegebenen Augenblick im Vordergrund stehenden Bedürfnissen, kann dabei das äußere Ich, das innere Ich oder auch das Selbst unser Existenzgefühl bestimmen. Die Art und Weise, auf welche wir unser Existenzgefühl sichern, folgt bestimmten Gewohnheitsmustern. Diese sind es auch, die uns immer wieder zur Wiedergeburt drängen.

Äußeres Ich, inneres Ich und das Selbst auf dem Weg der geistigen Schulung
In unserem Alltag stehen das äußere und innere Ich oft im Konflikt miteinander. Die Motivation für unsere Handlungen im Außen entspringt meist dem äußeren Ich und kann die eigentlich zugrunde liegenden Bedürfnisse des inneren Ichs nicht befriedigen. Chronische Unzufriedenheit und Rastlosigkeit sind die Folge dieses andauernden, inneren Konflikts.

Nachdem wir uns trainiert haben, die drei Aspekte zu identifizieren und die Wechselwirkungen zu verstehen, können wir beginnen, unsere im äußeren Ich verankerten Annahmen in eine heilsame Richtung zu verändern. Dies erreichen wir, indem wir den jeweiligen Gegenpol entlarven und dadurch die Dualität auflösen. So erkennen wir beispielsweise, dass Hass und Liebe lediglich zwei Seiten der gleichen Medaille sind. Es handelt sich um die gleiche Energie, jedoch mit unterschiedlichem „Vorzeichen”. Die Liebe unterliegt dem Prinzip der Anziehung, der Hass verkörpert den abstoßenden Pol. Wenn wir diese (vermeintlichen) Gegensatzpaare durchschaut haben, verlieren die Wechselwirkungen ihre Kraft und werden immer „weicher”: Das Spannungsfeld zwischen den beiden Polaritäten nimmt ab. Aus einem „ich bin stark” könnte so beispielsweise ein „es ist ok, wie ich bin”, werden. Denn je perfektionistischer und extremer unsere Selbstbilder sind, umso mehr stressen wir uns selbst. Stress wiederum verhindert, aufgrund der damit entstehenden Rastlosigkeit, den Zugang zu unserem Selbst.

Indem wir unsere Selbstbilder relativieren und immer mehr Facetten unseres Wesens zulassen, verändert sich auch die innere Haltung zu unserem Ich, also die Qualität unseres Geistes. Wenn wir uns selbst annehmen können, wie wir sind, werden die Konflikte zwischen nach außen gerichtetem und inneren Ich, die aus den unterschiedlichen Bedürfnissen der beiden Aspekte heraus entstehen, nachlassen. Aus Rastlosigkeit und Frustration wird dann Gelassenheit und innere Ruhe – wir kommen zunehmend mit uns selbst ins Reine.

Der buddhistische Leitfaden, um unsere geistigen Qualitäten positiv zu transformieren, ist der Achtfache Pfad. Indem wir Schritt für Schritt heilsames Denken und Handeln in unserem Alltag kultivieren, sowie über die Vergänglichkeit aller Erscheinungen kontemplieren, erlangen wir mehr und mehr Klarheit. Auch die im tibetischen Buddhismus verbreitete Praxis der meditativen Visualisierung von Buddha(s) und Bodhisattwas, wie z.B. der weißen Tara, helfen, dem Geist positive Impulse zu geben. Über die Kontemplation der typischen Erscheinungsformen, Symbole und positiven Eigenschaften der Bodhisattwas wie z.B. Mitgefühl und Liebender Güte, eröffnen wir unserem Geist den Zugang zu diesen Qualitäten. Da wir sehr oft unzufrieden mit unserem Ich sind, benötigen wir derartige, positive Aspekte, um das Ich aufzuwerten. Auf diese Weise können wir kurzfristige Zufriedenheit in uns herstellen.

Im Zen-Buddhismus arbeitet man direkt mit den geistigen Faktoren, die in einem gegebenen Moment im eigenen Bewusstsein vorhanden sind. Ziel ist die Identifizierung der einzelnen Komponenten, man beobachtet, wie sie entstehen und vergehen und kann die Erscheinungen dadurch loslassen, da man ihre fiktive Natur erkennt.

Je mehr sich die Qualität unseres Bewusstseins im Verlauf unserer inneren Arbeit verändert, und je mehr Klarheit wir über die einzelnen geistigen Komponenten haben, umso deutlicher wird, wie vergänglich und damit veränderbar unser geistiger Zustand ist. Auf diese Weise kommen wir in Kontakt mit der Substanzlosigkeit aller Erscheinungen, und damit mit der Leerheit, die dieser zugrunde liegt.

Wie wir unsere eigene Realität erzeugen …

Mit jeder Handlung, sei es auf geistiger, verbaler oder körperlicher Ebene, erzeugen wir Wechselwirkungen und damit karmische Verbindungen. Deshalb sollten wir verstärkt Achtsamkeit in jedem Moment unseres Lebens üben.
Wenn wir beispielsweise ständig mit dem Gefühl leben, verletzt worden zu sein und dies als real erachten, werden wir immer wieder Situationen im Leben begegnen, die es uns ermöglichen, genau dieses Gefühl wieder zu erzeugen. Wir tragen diese Energie von einem Leben zum nächsten und binden uns dadurch an das Rad der Wiedergeburten.

Ankommen …

Je größer die Anhaftung an das äußere Ich ist, umso schwerer wird das innere Ich, um die Dualität aufrechtzuerhalten. Wir bleiben im Spannungsfeld der beiden (dualistischen) Pole gefangen. Schaffen wir es, unser Ich mehr und mehr loszulassen, kommen wir zunehmend in die Ruhe und treten in (bewussten) Kontakt mit unserem Selbst. Das äußere und innere Ich als Brücke zum Selbst werden überflüssig. Die Dualität ist aufgehoben und – um es mit den Worten des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh auszudrücken – wir sind angekommen.

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25. Februar 2010

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