Ansichten und Konzepte

Die dritte und vierte Stufe der Betrachtung (Zen 7-9): Klarheit über Ansichten und Konzepte

Auf dem Weg der Selbstfindung entdecken wir mehr und mehr, dass das Selbstbild, welches wir in uns tragen – die verinnerlichten Vorstellungen darüber wer oder was wir vermeintlich sind – wesentlich von den Menschen um uns herum und deren Erwartungen sowie unseren Gewohnheitsstrukturen geprägt wird.

Unser Kopf ist voll von Konzepten. Ideen und Vorstellungen wie „eine gute Mutter muss so und nicht so sein“ sind typische Konzepte, die wir von Instanzen außerhalb unseres Selbst (z.B. von den Eltern oder der Gesellschaft) übernommen haben. Oft weichen diese von unseren eigenen Überzeugungen und Bedürfnissen ab oder widersprechen diesen sogar, was wir zur Vermeidung von (inneren wie äußeren) Konflikten gerne verdrängen.

Im Rahmen des Prozesses müssen wir unsere Täuschungen ent-täuschen …

Wenn wir als Baby auf die Welt kommen, sind wir hilflos und auf andere angewiesen. Kurz bevor wir diese Welt verlassen, also sterben, sind wir in der Regel wieder in einem ähnlichen Zustand der Hilflosigkeit.
Zwischen Geburt und Tod versuchen wir dem, was wir tun, einen Sinn zu geben. Wir streben danach, unser Leben angenehm zu machen und aufzuwerten. Dabei unterliegen wir oft einer Selbsttäuschung: Wir übersehen das für uns wirklich Wichtige. Erst auf dem Sterbebett spüren wir unsere wahren Bedürfnisse. Wir tragen die Sehnsucht nach deren Erfüllung mit in das nächste Leben und binden uns dadurch an den Wiedergeburtskreislauf.
Erst wenn wir äußerlich zur Ruhe kommen, uns beispielsweise zur Meditation setzen, werden wir unseres ständigen, inneren Dialogs bewusst. Unsere zahlreichen inneren Stimmen sind darin geschult, alles zu kommentieren, meist in Form von Negativbotschaften wie „das hast Du aber nicht gut gemacht“. Es existiert so viel „nicht“ in uns – wir verneinen damit unsere Lebendigkeit. Viele dieser verinnerlichten Instanzen stammen nicht von uns selbst. Es sind die Stellvertreter unserer Eltern und anderer Menschen, die in unserem Leben eine wichtige und prägende Rolle gespielt haben. Irgendwann haben wir sie uns als „zu uns selbst gehörig“ einverleibt. Sie geben uns die Illusion der Sicherheit, indem sie Rahmenbedingungen festlegen, innerhalb derer wir zu denken und zu handeln haben. Wenn die „anderen“ sagen, ich bin so und so, dann wird es wohl so sein. Wenigstens weiß ich dann, wer oder was ich bin.
Wir müssen unterscheiden lernen, welche Botschaften von uns selbst stammen und welche wir ursprünglich von anderen übernommen haben. Nur dann können wir zu dem vordringen, der wir wirklich sind.
Wenn die Täuschungen aufhören, gibt es auch keine Enttäuschung mehr. Aber wie können wir uns von den (Selbst)täuschungen befreien?

Die Vergänglichkeit aller Erscheinungen in der Tiefe verstehen …

Um uns ein Gefühl der Sicherheit sowie die Illusion der Beständigkeit zu erschaffen, halten wir an unserem Selbstbild fest.

Alles, was ist, kommt und geht – das Leben besteht aus ständiger Veränderung. Wenn wir das in der Tiefe verinnerlicht haben, wird uns klar, dass das, was wir in einem gegebenen Moment als „Ich“ wahrnehmen, ebenfalls nur vorübergehender Natur sein kann. Wenn uns das Gewahrsein für den aktuellen Augenblick entgeht, sind wir bereits wieder in unseren Täuschungen verfangen.
Wir können unsere Täuschungsmanöver aufdecken, in dem wir uns unsere Befriedigungsmechanismen und die Widerstände in unserem Leben anschauen.
In unseren Alltag versuchen wir ständig, uns versteckt zu befriedigen – der ethische und soziale Druck ist so groß, dass wir Schleichwege und Ersatzbefriedigungen suchen, um unsere vermeintlichen Sehnsüchte zu befriedigen. Dabei können wir oft nicht auseinanderhalten, ob wir gerade unsere Sinne befriedigen oder vor etwas flüchten wollten. Wir leben in einer Gesellschaft mit bestimmten ethischen und moralischen Rahmenbedingungen. Dies macht ein gewisses Maß an Anpassung und damit auch die Unterdrückung bestimmter Bedürfnisse notwendig – so denken wir zumindest.

Die Widerstände selbst sind eigentlich nicht das Problem …

Unsere Widerstände sind vielschichtiger Natur. Fast allen aber liegt eine Hauptursache zugrunde: dass wir uns selbst nicht akzeptieren können, wie wir sind. Sie werden immer dann aktiviert, wenn unser Selbstbild, das heißt, die subjektiven Vorstellung(en) darüber wer oder was wir sind, in Gefahr ist. Dabei sind die Widerstände selbst nicht das Problem – so lange man bereit ist, sie anzuschauen. Je mehr unbewusste Widerstände wir in uns tragen, umso mehr Dualität erzeugen wir: Mann und Frau, Ich und Du. Wir erleben uns zunehmend als voneinander getrennte Wesen.
Eigentlich aber sehnen wir uns nach tiefer, inniger Berührung – auf körperlicher und seelischer Ebene. Haben wir diese erfahren, erfüllt uns eine tiefgründige Zufriedenheit. Wird diese Sehnsucht nicht erfüllt, schauen wir aus dem Fenster nach „Gott“ (im beispielsweise christlichen Kontext) oder nach der „Leerheit“ (im buddhistischen Kontext). Wir hoffen, von Gott oder der Leerheit berührt zu werden, um uns dann endlich „ganz“ fühlen zu können.
Haben wir diese tiefe Berührung einmal in uns selbst gespürt, ist es uns in der Folge gleichgültig, was die anderen von uns denken. Wir wissen dann, dass wir bereits alles, was wir für unser Wohlergehen benötigen, in uns tragen. Wir sind frei und unabhängig.

Die Wunschvorstellungen unserer Bezugspersonen zu unseren eigenen machen

Das Selbstbild, welches wir uns oft über Jahrzehnte mühevoll aufgebaut haben ist ein falsches Selbstbild. Es basiert nicht auf der Realität, sondern auf Wunschvorstellungen. Es dient in erster Linie dazu, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere die unserer Bezugspersonen.

Wir alle haben eine Bezugsperson, auf die wir unser Bedürfnis nach z.B. Liebe und Geborgenheit fokussieren. Dies kann ein Elternteil sein oder ein Mensch, mit dem wir uns auf einer tiefen Ebene verbunden fühlen. Es ist eine unsichtbare Verknüpfung – unbewusst richten wir unser Leben ständig danach aus, den Erwartungen dieser Bezugsperson gerecht zu werden.

Ein Beispiel: Ein Vater hat die Wunschvorstellung, seine Tochter möge eines Tages Soloviolinistin werden. Unbewusst (und zum Teil auch bewusst) vermittelt er der Tochter immer wieder, wie schön es doch wäre, wenn sie auch so toll Geige spielen könnte wie die Frau im Fernsehen usw. Die Tochter wünscht sich nichts sehnlicher, als vom Vater akzeptiert und geliebt zu werden. Er soll stolz auf sie sein können. Sie möchte Geige spielen lernen, nicht, weil sie es wirklich selber will, sondern, weil sie die Liebe und Akzeptanz des Vaters bekommen möchte. Das spornt sie zu Höchstleistungen an – sie übt und übt, um eine der Besten zu werden. Die Wunschvorstellung wird irgendwann so tief in ihr verankert sein, dass sie am Ende glaubt: ICH WILL Soloviolinistin werden. So richtet sie ihr ganzes Leben und Streben danach aus. Sie geht zu Castings, macht Bühnenauftritte – sie sucht das Rampenlicht. Irgendwann wacht sie auf, völlig erschöpft und fragt sich, was sie da eigentlich macht.

Karmische Lokomotiven

So tragen wir unbewusste Erwartungen in uns, die unser Denken und Handeln in bestimmte Richtungen lenken: die Eltern oder eine andere Bezugsperson sollen stolz auf uns sein. Wir bemühen uns wirklich so sehr darum, Anerkennung von den jeweiligen Personen zu bekommen. Dieses Phänomen nennen wir karmische Lokomotive: Wir sind lediglich ein Waggon, der an die karmische Lokomotive angehängt ist. Wir werden von den Erwartungen und Wunschvorstellungen unserer Bezugspersonen mitgezogen. Und diese Energie ist es, welche wir von einer Wiedergeburt zur nächsten „mitschleppen“: Von Leben zu Leben suchen wir uns ähnliche Bedingungen, um erneut den passenden Lokomotivführer zu finden und auf diese Weise auch weiterhin unsere Gewohnheitsstruktur ausleben können ( Resonanzprinzip).

Loslassen der Erwartungen unserer Eltern

Irgendwann entwickeln wir aber unsere eigenen Vorstellungen, wollen uns selbst verwirklichen. Uns wird bewusst, dass die verinnerlichten Konzepte unserer Eltern oft nicht unseren eigenen Bedürfnissen entsprechen. Wir entwickeln Schuldgefühle – wir können uns nicht zugestehen, unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu führen, da dies mit denen unserer Eltern kollidiert. Es entsteht ein Ungleichgewicht in uns und wir werden immer unzufriedener mit unserem Leben. Wir können nicht aufhören, die Wunschbilder und Erwartungen unserer Eltern mit uns herum zu tragen.

Wenn wir die Realität wirklich anschauen, haben unsere Eltern auch nicht die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen können. Trotzdem neigen auch wir in der Elternrolle dazu, enttäuscht zu sein, wenn unsere eigenen Kinder nicht unseren Wunschvorstellungen entsprechen. Es kann nicht die Aufgabe der Kinder sein, den Erwartungen der Eltern hundertprozentig zu entsprechen – diese Erkenntnis kann sehr schmerzhaft sein, gehört aber zu dem für alle Beteiligten notwendigen Abnabelungsprozess dazu.

Eigentlich ist das ein ganz natürlicher Prozess. Wenn wir in unserer Persönlichkeitsentwicklung nicht unabhängig von den Erwartungen und Gefühlen unserer Eltern sein können, werden wir ein ganzes Leben lang wie in einem Käfig gefangen sein. Entscheiden wir uns aber für ein selbständiges Leben, wird es stets eine Diskrepanz zwischen den Vorstellungen der Eltern und denen des Kindes geben.

Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die geistige Entwicklung der Eltern. Können sie den Prozess der Abnabelung ihres Kindes zulassen? Unterstützen sie die Kinder auf ihrem individuellen Weg? Natürlich wünschen sie sich das Beste für ihr Kind. Doch ihre Wünsche drehen sich (zumindest unbewusst) letztendlich oft darum, sich selbst glücklich zu machen und ihr Bild von einer „guten Familie“ oder einem „gutem Leben“ aufrecht zu erhalten.

Wenn wir erkannt haben, in welchem Ausmaß wir von den Erwartungen unserer Eltern abhängig sind, erlangen wir Klarheit darüber, welchen großen Handlungsspielraum wir eigentlich in unserem Leben haben. Leider ist es aber eher so, dass es uns leichter fällt, unsere Schwächen – und nicht unsere Stärken – wahrzunehmen. Durch unsere Erziehung und Entwicklung werden wir immer wieder auf unsere Fehler und Defizite hingewiesen. Daher kennen wir uns in dieser Hinsicht meist sehr gut aus.

Defizite und Schwächen als Schutzmechanismus

Die Defizite sind aber eigentlich ein Schutzmechanismus für unser (falsches) Selbstbild, damit wir in der Außenwelt nicht anecken und uns so beliebt(er) machen können. Dabei realisieren wir nicht, dass wir auf diese Weise unsere eigene Entwicklung behindern. Denn wenn wir unsere Schwächen wirklich genau anschauen, erkennen wir, dass sie nur aus unseren Ängsten heraus entstanden sind.

Zum Beispiel jemand, der Angst hat, sich zu artikulieren, auszusprechen, was er fühlt und denkt. Für ihn ist es ein Schutzmechanismus, Zurückhaltung zu üben. Auf diese Weise erzeugt er für sich eine gewisse (vermeintliche) Sicherheit. Er vermeidet Konfrontationen, weil er keine Angriffsfläche für andere bietet, beispielsweise dadurch, dass er keine Gefühle zeigt bzw. keine Meinung äußert.

Ein Ausflug in das Tierreich…

Wenn wir in die Naturreiche schauen, besonders in das Tierreich, werden wir beobachten, dass viele Tiere auch bestimmte Ängste und Schwächen in sich tragen. Aber Tiere verstehen instinktiv ihre Schwäche so konstruktiv einzusetzen, dass sie daraus eine Stärke entwickeln können. Zum Beispiel entwickeln Tiere, die sich nicht gut verteidigen können, die Fähigkeit, schnell laufen oder rennen zu können. Oder sie entwickeln eine extrem sensible Wahrnehmung, so dass sie Gefahr aus weiter Entfernung „wittern“ können. Antilopen beispielsweise können zwar nicht wirklich gut kämpfen gegen Löwen oder Geparden, doch sie können sehr hoch springen, Richtungen in Windeseile ändern und sehr schnell rennen. Die Hörorgane sind sehr sensibel und erfassen sofort jedes potentiell gefährliche Geräusch um sie herum, auch die Augen sind scharf und wachsam und nehmen jede verdächtige Bewegung wahr.

Schwächen zu Stärken wandeln

Wir Menschen verurteilen jedoch unsere Schwächen und lehnen unsere Fähigkeiten, die wir aus unserer Angst heraus entwickeln könnten von vorneherein ab. Je mehr wir aber unsere Schwächen verstehen können und besonders die Bedingungen, die diesen Mechanismus ausgelöst haben oder den Mechanismus selbst klar erkennen, wird es uns möglich zu verstehen, dass es eigentlich ein gutes Werkzeug ist, um sich in Gefahrsituationen zur Wehr setzen zu können. Auch im Alltag kann man diese Fähigkeiten gezielt und sinnvoll einsetzen.

Wenn jemand beispielsweise körperlich schwach ist und sein Körper für seinen Alltag nicht genügend belastbar ist, setzt er seine Intelligenz umso mehr ein. Er versucht, sein Umfeld so zu gestalten, dass er unter Menschen ist, die ihn auf intellektueller Ebene verstehen und ihn wertschätzen. In gewisser Weise geht er dem Problem seiner körperlichen Schwäche aus dem Weg – dafür aber setzt er sein Wissen und seine Intelligenz sinnvoll ein, um zu überleben. Ist es letztendlich nicht so, dass man Wissen und nicht Körperkraft einsetzt, um sein Leben wirklich zu meistern?

Unser verborgenes Potential entdecken: Rückverbindung mit den vier Elementen

Die Gefahr ist, dass man vor lauter Defiziten den eigenen, positiven Kern und das daraus resultierende Potential nicht mehr wahrnehmen kann. Tief in uns sind unendliche Möglichkeiten verborgen. Sie werden durch unsere selbst geschneiderten und von anderen übernommenen Konzepte verdeckt. Oft sind wir nicht in der Lage, dies selbst zu erkennen. Wie kommen wir in Kontakt mit unserem positiven Kern? Indem wir uns mit den vier Elementen in uns und um uns herum rückverbinden.

Wir werden bodenständig wie die Erde, flexibel wie Wasser, entwickeln Hingabe, Kraft und Genussfähigkeit wie das Element Feuer und schweben über den Dingen wie der Wind. Das sind die vier positiven Elemente, die jeder in sich trägt. Es kommt darauf an, sie auf konstruktive Weise zu entfalten.

Auf dem ZENweg geht es darum, sich vollständig kennen zu lernen, sowohl in Bezug auf die eigenen Schwächen als auch in Bezug auf die Stärken. Erst dann kann man sich selbst gezielt fördern und gleichzeitig lernen, sich in all seinen Facetten zu akzeptieren und wertzuschätzen.