Gewohnheiten und Wahrnehmung
Die fünfte Stufe der Betrachtung (Zen 10-12): Klarheit über unsere Gewohnheitsstrukturen und Wahrnehmungsprozesse
Unser Denken, Fühlen und Handeln wird durch unsere bewussten und unbewussten Ängste motiviert.
Mithilfe unserer alltäglichen Denk- und Handlungsmuster versuchen wir ständig unser maßgeblich durch die Erwartungen anderer definiertes Selbstbild zu verwirklichen, uns daran anzunähern. Wie ein Esel, der einer einen Meter vor seinem Maul hingehaltenen Karotte hinterher trabt in der Hoffnung sie eines Tages doch noch zu erhaschen, jagen wir den Vorstellungen über uns selbst hinterher. Irgendwann stellen wir fest, dass wir unsere Erwartungen (bzw. die unserer Bezugspersonen) nie hundertprozentig werden erfüllen können. Es entstehen Mechanismen in uns, um unsere Schwächen und Fehler zu verdecken. Mit diesen Kompensationsversuchen täuschen wir unsere Umgebung sowie uns selbst und kreieren aufgrund der daraus resultierenden, verzerrten Wahrnehmung unsere eigene, subjektive Welt. Da jeder Mensch in seiner eigenen subjektiven „Wirklichkeit“ gefangen ist, gestalten sich Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehungen oftmals sehr schwierig, da man den anderen gar nicht verstehen kann – man bedient sich unterschiedlicher Sprachen.
Die Gewohnheitsstrukturen werden aus unseren Ängsten genährt – z.B. Angst vor dem Alleinsein, vor dem Tod und vor der eigenen Wertlosigkeit. Wir tun alles dafür, um diese Ängste nicht spüren zu müssen und entwickeln raffinierte Kompensationsmechanismen, um uns davor zu schützen. Diese Muster spiegeln sich in unseren Gewohnheitsstrukturen wider.
Karmische Lokomotiven – auf den Gleisen unserer Gewohnheitsstrukturen durch das Leben fahren …
Wir tragen unbewusste Erwartungen und Hoffnungen in uns, die unser Denken und Handeln in bestimmte Richtungen lenken: Die Eltern oder eine andere Bezugsperson sollen stolz auf uns sein. Wir bemühen uns wirklich so sehr darum, Anerkennung von den jeweiligen Personen zu bekommen. Oder, weil wir der Auffassung sind, wir könnten alleine nicht überleben, klammern wir uns an unsere Mitmenschen und tun alles, um ihre Liebe und Aufmerksamkeit zu bekommen. Diese Phänomene, die sich wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben ziehen und unsere Beziehungen entsprechend gestalten, nennen wir karmische Lokomotive: Wir sind lediglich ein Waggon, der an die karmische Lokomotive angehängt ist. Wir werden von der Energie unserer Gewohnheitsstrukturen mitgezogen. Und diese Energie ist es, welche wir von einer Wiedergeburt zur nächsten „mitschleppen“: Von Leben zu Leben suchen wir uns ähnliche Bedingungen, um erneut den passenden Lokomotivführer und Gleise zu finden. Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass wir auch weiterhin unsere Gewohnheitsstruktur ausleben können (Resonanzprinzip).
Damit wir unsere Konzepte und Gewohnheitsstrukturen und somit unser Selbstbild wirklich in der Tiefe verstehen können, müssen wir erkennen, welche Ängste uns in unserem Denken und Handeln steuern und können diese dann beispielsweise im geschützten Rahmen von Zenseminaren konfrontieren. Nur so werden wir uns aus unseren einengenden Mustern befreien und im Sinne des Zen ein befreites und bewusstes Leben führen – nicht nur für uns selbst, sondern gerade auch in den Beziehungen mit unserem Mitmenschen.
Wir unterscheiden folgende drei Grundängste: Ablehnungsangst, Minderwertigkeitsangst sowie Verlustangst.
Wichtig ist zu verstehen, dass jeder der Angsttypen in bestimmten Abschnitten unseres Lebens einen Überlebensmechanismus darstellte, ohne welchen wir unter Umständen (psychisch) nicht hätten überleben können. Je mehr wir imstande sind, unsere Angstmechanismen zu durchschauen, umso mehr sind wir in der Lage, Aspekte unserer Ängste als heilsame Werkzeuge einzusetzen, z.B. können wir dann „die Energie“ der Ablehnungsangst nutzen, um uns von den Übergriffen anderer abzugrenzen.
1. Ablehnungsangst
Die Grundlagen für die Entstehung der Ablehnungsangst werden im frühen Alter von 0-3 Jahren gelegt. Auf irgendeine Art und Weise hat sich das Kind von seinen Eltern oder anderen jeweiligen Bezugspersonen direkt oder indirekt abgelehnt gefühlt. Obwohl es die Nähe und Liebe seiner Eltern suchte, wurde sie ihm verwehrt. Es verinnerlicht die Überzeugung „meine Eltern wollen mich gar nicht!“ Vielleicht wurde es von Bezugsperson zu Bezugsperson gereicht, oft alleine gelassen oder häufiger nicht in den Arm genommen, wenn es das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zuwendung hatte. Das Gefühl des Abgelehntwerdens brennt sich tief in die Persönlichkeitsstruktur des Kindes ein. Es zieht sich in seine eigene Welt zurück, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Aufgrund der Enttäuschung zeigt dieser Mensch in der Folge so wenig Gefühle wie möglich, um nicht wieder schmerzhafte Erfahrungen machen zu müssen.
Bis zum Erwachsenenalter haben Menschen, die eine ausgeprägte Ablehnungsangst in sich tragen, perfekte Schutzmechanismen entwickelt, um weitere Ablehnungserfahrungen zu vermeiden. So tendieren sie dazu, sich von anderen Menschen zu distanzieren und näheren Kontakt zu vermeiden. In Beziehungen brauchen „Ablehner“ viel persönlichen Freiraum, da sie sich sonst leicht unter Druck gesetzt fühlen. Auch Gefühlen gegenüber verhalten sie sich sehr distanziert. Es fällt ihnen auch schwer, einen wirklichen, authentischen Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen herzustellen. Dahinter steckt die Angst, wiederum abgelehnt zu werden, wenn man sich so zeigt „wie man ist“ bzw. wie man wirklich fühlt. Je distanzierter man sich gibt, umso weniger Angriffsfläche bietet man den Mitmenschen. Das Leben wird dann zwar recht einsam, aber vermeintlich sicherer und unabhängiger.
Die beiden extremen Ausprägungen der Ablehnungsangst:
Um weiterer Ablehnung vorzubeugen, entwickeln Menschen mit Ablehnungsangst häufig eine der beiden Gewohnheitsstrukturen oder pendeln zwischen diesen beiden Extremen hin und her:
a. Grundlage ist die Überzeugung „ich bin unschuldig“. Wenn sie sich selbst als unschuldig und harmlos darstellen, verringern sie das Risiko persönlich angegriffen oder nicht akzeptiert zu werden. Auf der Ebene der Gewohnheitsstrukturen wird dieser Mensch zu Rückzug, Resignation und depressiven Symptomen neigen.
b. Grundlage ist die Überzeugung „der Andere ist schuld“. Um von sich selber abzulenken, gehen sie nach außen und attackieren ihre Umwelt mit Schuldzuweisungen und Kritik analog dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Menschen, die aus dieser Gewohnheitsstruktur heraus leben, tendieren eher zu cholerischem Temperament und aggressiven Verhaltensweisen.
2. Minderwertigkeitsangst
Menschen mit Minderwertigkeitsangst tragen in sich das Gefühl, niemals gut genug zu sein. Um diesem Gefühl nicht begegnen zu müssen, kompensieren sie ihre scheinbare Schwäche mit anderen Fähigkeiten oder Eigenschaften. Sie neigen dazu, sich viel Wissen anzueignen und dieses anderen auch zu demonstrieren.
Die Minderwertigkeitsangst entsteht typischerweise im Alter von drei bis fünf Jahren. Ein klassisches Beispiel, welches sich in der Kindheit eines Menschen mit Minderwertigkeitsangst mehrfach zugetragen haben mag: Das Kind wollte Aufmerksamkeit, doch die Eltern hatten nicht viel Zeit und gaben dem Kind einfach eine schnelle Aufgabe – „ach, male doch ein Bild“. Das Kind freut sich über die kurze Aufmerksamkeit, will aber eigentlich richtige Zuneigung und Nähe. Es strengt sich daher unglaublich an, das Bild so schön wie nur möglich zu malen. Das Kind bringt das fertige Bild seiner Mutter. Doch die hat bereits vergessen, dass das Kind von ihr diese Aufgabe bekommen hatte. Sie schaut kurz über das Bild und sagt nur noch: „Also die Sonne könntest du eigentlich schöner malen. Und ein wenig mehr bunt würde doch auch gut aussehen.“ Anstatt Aufmerksamkeit hat das Kind nur aufgezeigt bekommen, was es noch besser machen könnte. Menschen, die Minderwertigkeitsangst in sich tragen, haben ihr Leben lang das Gefühl in sich erfahren, Dinge schlecht, nicht gut genug oder nur unzureichend erledigt zu haben. Oder sie wurden niemals darin ermutigt, etwas alleine zu tun, ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken einzusetzen.
Die beiden extremen Ausprägungen der Minderwertigkeitsangst:
a. Grundlage ist die Überzeugung „Ich bin der Beste“ („I am a hero“). Indem sie sich als stark und unnahbar darstellen, hoffen sie darauf, dass die anderen es nicht wagen, ihre Fähigkeiten in Frage zu stellen. Nach außen zeigen sie demnach ein überhöhtes Selbstwertgefühl.
b. Grundlage ist die Überzeugung „Ich bin ein Versager – ich kann nix“ („I am a zero“). Auf diese Weise stellen sie sich von vornherein als minderwertig und unfähig dar und schützen sich auf diese Weise vor Kritik. Zum einen, weil sie unter Umständen bestimmte Aufgaben gar nicht erst übertragen bekommen, weil man es ihnen nicht zutraut. Oder aber die Mitmenschen haben durch die geschickte Demonstration von Minderwertigkeit mit „Schlimmerem“ gerechnet und sind daher im nachhinein angenehm überrascht, dass die Leistung des „Minderwertigen“ ja doch gar nicht so ungenügend ist wie zunächst aufgrund dessen Selbstdarstellung befürchtet. Dahinter steht die Hoffnung, dass man ihnen sagt „oh, das hast Du doch gut gemacht!“
3. Verlustangst
Der dritte Typ der Grundängste hat seine Wurzeln im Alter von fünf bis sieben Jahren. Das Kind hat auf die eine oder andere Weise tiefgreifende Verlustmomente in seinem Leben erfahren. Ein typisches Bild ist das eines Kindes, das seiner Mutter hinterherläuft, die sich aber nicht umdreht, um es in die Arme zu nehmen. Das Kind streckt die Ärmchen aus, um seine Mutter doch noch zu erwischen, schafft es aber nicht. Fühlt sich ein Kind bereits in frühem Alter verlassen, entwickelt es eine besondere Gabe, zukünftig Menschen an sich zu binden und sich selbst so vor einer schmerzhaften Wiederholung schützen soll. Es lernt die Menschen in seiner Umgebung so zu manipulieren, dass es die gewünschte Aufmerksamkeit bekommt. Ein Kind mit Verlustangst kann sehr gut mit Gefühlen umgehen. Es hat Klarheit darüber, was die Menschen in seinem Umfeld brauchen oder sich wünschen und erfüllt ihnen jeden Wunsch, nur um dadurch in Kontakt zu bleiben. Solche Situationen sieht man besonders häufig in Waisenhäusern: Aus Erfahrung in der Arbeit mit Waisenkindern wissen wir, dass neue Elternpaare sich immer nur die süßesten, netten und aufgeschlossensten Kinder aussuchen. Kinder mit Verlustangst merken in solchen Situationen sofort, wie sie auf die Menschen reagieren müssen, um ausgewählt zu werden. Sie spielen genau das vor, was erwünscht ist, um zu bekommen was sie wollen: Nähe, Verbindung und Sicherheit.
Die Gefahr ist, dass daraus im Verlauf des weiteren Lebens ein gewohnheitsmäßiges Helfersyndrom entsteht. Um den Kontakt zu geliebten Mitmenschen nicht zu verlieren, sind sie mit ihrer Aufmerksamkeit stets bei den Anderen und nicht bei sich selbst. Sie verlieren nach und nach den Kontakt zu ihren eigenen Bedürfnissen und sind im erwachsenen Alter oft kaum in der Lage, sich selbst etwas Gutes zu tun. Auch wird ihre Angst vor Verlust so groß, dass sie in Beziehungen oft diejenigen sind, die klammern, stark kontrollieren und dem Partner keinen eigenen Raum oder Zeit für sich gönnen können.
Die beiden extremen Ausprägungen der Verlustangst:
a. Die Grundannahme lautet „Ich habe die Macht/Kontrolle“. Dadurch, dass der Verlustängstler sehr früh und gut gelernt hat mit Gefühlen umzugehen, meint er zu „wissen, was der Andere fühlt“. Dadurch erlebt er sich als mächtig und in einer Kontrollposition.
b. Basiert auf der Grundlage „Ich bin hilflos“. Indem man sich als Opfer darstellt und Leid präsentiert, erhofft man sich die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Umgebung. Hier wird also im Prinzip auch Kontrolle ausgeübt, aber auf eine andere, subtilere Weise wie bei der oben genannten Grundannahme.
Lebt ein Mensch mit Verlustangst mit einem Ablehnungsängstler in einer Beziehung zusammen und beginnt ihn auf der Gefühlsebene stärker an sich zu binden, wird der Ablehnungsängstler wachsam: Je mehr er sich gefühlsmäßig einbringt, desto größer könnte der Schmerz nach einer eventuellen Trennung sein. Der Mensch mit Ablehnungsangst wehrt sich in der Folge gegen zu große Vereinnahmung. Das wiederum löst die Verlustangst des Partners aus, welcher mit verstärkte Kontrolle oder Vereinnahmungstendenzen reagiert. Findet das Paar keinen Weg aus den eigenen Gewohnheitsstrukturen heraus, kommt es häufig zur Trennung, da sich der Ablehnungsängstler zu sehr eingeengt fühlt und die Freiheit sucht.